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Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Shipstead
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Unterseite mit Blut beschmiert, und er machte sich daran, sie aufzuheben. Eins war festgeklebt, er kratzte es mit den Fingernägeln vom Boden.
    Dort war er noch, als die Fliegentür quietschte. Er reckte den Kopf in den Flur und sah Livia von hinten, wie sie ihre Sandalen auszog, den Stoffbeutel absetzte und hinter sich leise die Tür zumachte. Das Ausmaß seiner Erleichterung überraschte ihn. Sie war heil und lebendig, bemühte sich, nicht ertappt zu werden, drückte die Tür vorsichtig mit gespreizten Händen ins Schloss und lief auf Zehenspitzen. Winn zog sich in die Waschküche zurück und versteckte sich hinter der Tür. Als sie durch den Flur ging, hielt er die Luft an. Er hörte, wie sie ganz leise versuchte, Greyson zu wecken. Greyson grunzte, und die Sofafedern knarrten. Er fragte sich, ob sie den Kaffee rochen und ob sie ihn entdecken würden, doch dann schlich Greyson auf Zehenspitzen durch den Flur und verließ das Haus. In der Einfahrt sprang der Jeep an. Kies knirschte, der Motor wurde leiser; Livias Schritte verschwanden die Treppe hinauf.
    Winn setzte sich ins Arbeitszimmer, in den hohen Ohrensessel an seinem Schreibtisch, und betrachtete die Kette an seiner Messinglampe, ohne nach ihr zu greifen. Inzwischen war es hell genug. In einer Ecke der Unterlage befand sich ein kleiner Stapel Umschläge, eine Zufallssammlung von Post,die der Verwalter hereingeholt hatte: Werbung von einer Kabelgesellschaft, Spendenaufrufe, eine uralte Danksagung für ein Abendessen im letzten Sommer, an das er sich nicht erinnern konnte. Er warf sie alle in den Papierkorb. Er schrieb den vierteljährlichen Scheck für das Verwalterehepaar aus und legte ein Briefchen dazu, in dem er sich nach möglichen Erklärungen für den traurigen Zustand des Gemüsegartens und nach Abhilfe erkundigte. Beides verschloss er in einem Umschlag, der von der Feuchtigkeit im Haus gewellt war und schon beinahe von selbst klebte. Er hätte sich gern mit Arbeit abgelenkt, aber es gab nichts zu tun. Seine Unterlage war bloß und leer. Er hatte alles zu Hause gelassen, gebündelt in ordentlichen Stapeln auf dem dortigen Schreibtisch. Wenn er doch nur Rechnungen bezahlen, Unterschriften leisten, Briefmarken aufkleben, bittere Umschlagklappen anlecken könnte. Am liebsten hätte er im Büro angerufen, doch dort war noch niemand.
    Sein Blick stieß auf den Rücken eines alten Fotoalbums in einem der unteren Regale, und er musste wieder an die verlorenen Fotos aus dem Schreibtisch seines Vaters denken. Über die Jahre hatte er die meisten Andenken an seine Familie in dieses Haus geschafft, wo sie sich in der Salzluft friedlich auflösen konnten. Alte Besitztümer verleiteten zum Erinnern, und Erinnerungen führten dazu, dass man über sein Leben Buch führte, die immer längeren Spalten mit den Listen seiner Taten überflog und ermahnt wurde, daran zu denken, dass am Ende eine Gesamtsumme stehen würde – unauslöschlich in Stein gemeißelt. Für trübe Gedanken dieser Art war im Alltag der Vorortzüge und Aktienindexe kein Platz, deswegen verwahrte er sie für die Insel, wo alles Schwere, wie überhaupt alles, durch den frischen Wind unddie tröstliche Umarmung des Atlantiks gemildert wurde. Doch jetzt zog er das Album hervor und setzte sich damit an den Schreibtisch.
    Auf den ersten Seiten prangten Bilder seines Großvaters als alter Herr und ein Foto seiner Mutter bei ihrer Hochzeit. Danach kamen Schwarzweiß-Fotos von seinem Vater und den Freunden seines Vaters: blasse Männer, die mit ernsten Mienen nebeneinander standen oder mit übergeschlagenen Beinen in Zimmern saßen, die sich entweder in ihrem alten Haus in Boston oder in einem der Clubs seines Vaters befanden. Er blieb bei dem Foto hängen, bei dem er jedes Mal hängenblieb. Es war ein kleiner Schnappschuss, quadratisch im Format, von seinem Vater am Billardtisch im Vespasian Club, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht nach rechts schaute, während über ihm Frederick streng von der Wand hinuntersah. Es war das einzige Bild im ganzen Album, auf dem Tipton glücklich wirkte.
    Der Vespasian Club auf seinem Hügel in der Nähe des Regierungssitzes war Tiptons eigentliches Zuhause, sehr viel mehr als das farblose Haus, in dem er und seine Frau wie Fremde lebten. Im Club aß er meistens zu Abend, las seine Zeitungen und traf seine Freunde. Er residierte in einem großen, eleganten Gebäude mit klassischem Beiwerk – Laubranken, weiße Ziergiebel über den Fenstern, Säulen zu beiden Seiten

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