Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
stellte sein Kinn keinesfalls die starke, forsche, männliche Klippe dar, die es sein sollte. Das Problem war ein Quentchen zu viel weiche Haut unter dem Kinn, ein molliger Beutel, den er schon als Kind gehabt hatteund durch den sein Kinn übergangslos in den Hals überzugehen schien, insbesondere wenn er unbedacht den Kopf in den Nacken legte. Ein weiches Kinn stand für einen weichen Mann, es galt als Symptom für Feigheit, Verdorbenheit, abwegige Gelüste und schlechte Zucht, und er war gezwungenermaßen zu dem Schluss gelangt, dass er dank seiner mandibulären Schwäche sowohl auf kosmetischer Ebene als auch, was sein daraus ersichtliches Wesen betraf, weniger Attraktivität besaß, als wenn er mit einem perfekten Kinn ausgestattet gewesen wäre, wie Gregory Peck vielleicht. Aber daran ließ sich nun einmal nichts ändern.
»Ich kann nichts dafür, dass du auf mich nicht anziehend wirkst. Das ist kein Grund, gemein zu werden«, sagte er leichthin.
Ihr Augen traten noch mehr hervor. »Ich wusste, dass du keine Ahnung von Liebe hast, aber ich dachte, du wüsstest, was Anziehung ist. Du bist ein Idiot.«
»Na ja«, sagte er. »Du bist diejenige, die etwas von Liebe gesagt hat.«
»Stimmt«, sagte sie. »Ich bin ein noch größerer Idiot.« Damit wandte sie sich ab und verschwand zwischen den Partygästen, um mit fliegendem Sommermantel und zornigen Augen wieder aufzutauchen und die Tür laut hinter sich zuzuknallen. Ihr Gehen schien von niemandem außer ihm bemerkt zu werden.
Er ging mit der Frau nach Hause, mit der er gekommen war. Sie war vom Tanzen und vor Eifersucht aufgeregt und anhänglich, aber er sprang so rau mit ihr um, dass sie Angst bekam. Er hatte noch nie bei einer Frau Furcht ausgelöst und irgendwie gefiel es ihm, bedrohlich zu wirken, obwohl er wusste, dass er sich egoistisch, ja beschämend unangenehmverhielt. Als sie ihn bat, es sein zu lassen, ließ er ohne Widerworte von ihr ab. Als er die Wohnung verließ, lag sie noch im Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen. Noch wochenlang wanderten seine Finger zum Kinn, drückten und zupften und versuchten, ihm eine schönere Form zu geben. Ophelia verlor er aus den Augen. Er vermutete, sie sei weggezogen, und ihrem Vater begegnete er zwar gelegentlich bei Essensveranstaltungen im Vespasian oder Ophidian, doch mied er jedes Gespräch mit ihm. Wann sie zu Fee wurde, entging ihm, und ebenso, wie sie mit Jack zusammenkam, aber er hörte von anderen, dass sie ein Paar geworden waren, und später, dass sie sich verlobt hatten. Zur Hochzeit wurde er nicht eingeladen, hörte aber, dass es ein tolles Fest war. Auch von den Geburten der Kinder hörte er und dann von Megs Problemen. Dass zwei Menschen zusammengegangen waren, die er verschmäht hatte, verunsicherte Winn, doch sie zeigten sich, wann immer er sie im Lauf der Jahre traf, absolut freundlich. Auch Livia hatte in ihrer Zeit mit Teddy erzählt, sie seien immer nur nett zu ihr, und bis die Probleme mit dem Pequod auftauchten, hatte Winn zu glauben begonnen, das böse Blut zwischen ihnen existiere nur noch in seiner Einbildung.
Irgendwo im Haus ging die Klospülung. Dielen knarrten. Winn richtete sich auf. Er hatte den Kopf in einem ungeschickten Winkel auf eine Wange gelegt, und jetzt war sein Nacken steif. Der Nebel hatte sich bereits fast gänzlich aufgelöst, und sein Arbeitszimmer war von warmem Sonnenlicht erfüllt. Er stellte das Album ins Regal und schlüpfte aus dem Bademantel. Auch die Pantoffeln ließ er stehen. Barfuß schlich er zum Seiteneingang und holte seinen Tennisschlägerund die Schuhe aus dem Schrank. Während er die Schuhe schnürte, hörte er oben weibliche Stimmen. Wieder knarrten Dielen, und wieder lief Wasser durch die Rohre. Winn schloss leise hinter sich die Fliegentür, schwang sich auf sein Rad und trat so schnell in die Pedale, wie es auf dem Kiesweg möglich war. Da war er ja gerade noch einmal davongekommen, dachte er.
10 · Mehr als ein Fisch, mehr als ein Meer
D ominique saß in einem Liegestuhl und las in einem Kochbuch aus Winns Sammlung. Neben ihr im Sand lag ein aufgerollter Sonnenschirm. Der Morgen war noch kühl, und die Sonne angenehm. Nicht weit von ihr lag Livia auf einem Handtuch. Sie trug ein Sweatshirt über dem Bikini und hatte die Arme übers Gesicht gelegt. Um ihren Kater zu dramatisieren, stöhnte sie vor sich hin.
»Geh ins Wasser springen«, sagte Dominique. »Damit du einen klaren Kopf kriegst.«
Livia reckte den Hals und nahm die Wellen in
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