Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
trägt, und dann tut man es tatsächlich – was ist daran ironisch?«
Er sah sie über seine Sonnenbrille hinweg an. »Warum hast du Sterling vorgezogen. Ich bin dir nicht böse. Bloß neugierig.«
»Francis, es war dir nicht ernst. Du hast keine Gefühle für mich.«
»Woher willst du das wissen? Lach nicht. Aber das tut auch nichts zur Sache. Meine Frage ist – was ist an mir auszusetzen? Was macht ihn attraktiver als mich? Dass er das ist, weiß ich. Auch wenn ich vermutlich besser aussehe und wahrscheinlich ein besserer Mensch bin.«
»An dir ist gar nichts auszusetzen. Ich fühle mich einfach nicht zu dir hingezogen.«
»Aber zu Sterling fühlst du dich hingezogen.«
»Ich weiß nicht. Gestern Abend schon.«
»Hm.« Francis ging stumm neben ihr her. Je weiter sie liefen, desto weniger geschützt war das Ufer, und verwehender Sand stach an Livias Schienbeinen. »Familien sind komisch«, sagte er. »Eigentlich sind Sterling und ich uns ziemlich ähnlich. Wir sind beide nachdenkliche Charaktere. Wir fühlenuns beide zum Fernen Osten hingezogen. Aber Sterling hat überhaupt nichts, woran er glaubt und ist immer deprimiert. Ich kanalisiere meine dunklen Gedanken, indem ich an mir arbeite, und deswegen bin ich durch und durch monogam, während Sterling – Verzeihung – mit jeder schläft. Wenn ich dir einen Rat geben darf, dann halte dich von ihm fern.«
»Das ist nicht das erste Mal, dass ich heute diesen Rat bekomme.« Ehrlich gesagt, machte es ihr nichts aus, dass die Familien über sie und Sterling klatschten. Wenn sie schon nicht cool und unnahbar sein konnte wie Dominique, dann galt sie lieber als ein bisschen wild, ein bisschen lasziv, eine Femme fatale . Ihrer Erfahrung nach beneideten Leute in einer Gruppe diejenigen am meisten, die es schafften, paarweise abzuziehen. Auch wenn sie die Wahl des Partners kritisierten oder so taten, als wären sie generell gegen flüchtige Techtelmechtel, war es den meisten Leuten lieber, zu denen zu zählen, die im Dunkeln munkelten und hinterher verlegen und selbstzufrieden wieder auftauchten, als zu denen, die müde wurden, sich das Gesicht wuschen und ins Bett gingen wie an jedem anderen Tag auch. Außerdem hatte sie jetzt bewiesen, dass sie nicht auf Teddy fixiert war.
Livia hob eine kürbisfarbene Muschel auf. Sie drehte sie um und warf sie fort. Heute Morgen war sie im Dunkeln aufgewacht, fröstelnd und zitternd. Die Flut war gekommen, und ihre Füße waren nass. Als sie in Sterlings Richtung tastete, fand sie nur kalten Sand. Eine kleine Welle ergoss sich über ihre Füße. Sie fühlte sich ängstlich und mutterseelenallein. Doch als sie aufstand, stolperte sie über Sterling, der laut aufstöhnte und meinte, ihm sei verflucht kalt.
Francis redete weiter. »Sterling gibt sich als eiskalter Rebell, aber das ist er nicht. Das bin ich viel eher als er. Ich weißnicht, wieso er sich ungestraft den ganzen Mist leisten kann, den er sich erlaubt, und ich der Prügelknabe der Familie bin.« Eine Bö trug den ersten Hauch von Verwesung von ihrem Ziel herbei, und er hielt sich die Ellbenbeuge vor die Nase. »O mein Gott, hast du das gerochen?«
»Wenn du eine Leiche wärst, die vierzig Tonnen wiegt, würdest du auch stinken.«
»Warum liebst du sie?«
»Wen?«
»Die Wale.«
»Ich weiß nicht.« Er war nicht der Erste, der sie das fragte, aber sie begriff nicht, warum sie darauf eine Antwort haben sollte. Warum liebte man etwas?
»Es muss doch einen Grund geben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es hat was mit ihrer Größe zu tun. Es macht mich traurig, dass sie so groß sind. Sie sind selten genug, dass ich jedes Mal, wenn ich einen sehe, begeistert bin. Ich finde sie wunderschön. Wie kann jemand sie nicht lieben? Sie sind faszinierend. Wusstest du, dass sie im Team jagen? Buckelwale treiben Fische mithilfe von Klickgeräuschen zusammen und bilden Netze aus Blasen.«
»Echt? Wahnsinn.«
»Es ist wirklich wahnsinnig.« Sie dachte an die silbrige Kugel aus dicht gepackten, verwirrten Fischen und die glücklichen Fresser, die mit weit geöffneten Mäulern von unten heranschossen. Gähnende Tore zur Unterwelt. Die gerippten Kehlen der Wale weiteten sich von Meerwasser und Fischen, und von deren Geschwimme und Wassergeschwappe im Inneren dehnte sich ihre Haut. Wann mochte den Heringen wohl aufgehen, dass sie nicht in eine neue dunklere See geraten waren, sondern in den Bauch eines Tieres? Oderwaren Heringe zu dumm, um zu merken, wann sie gefressen wurden? Nein,
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