Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)
»Ach!«
Biddys Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her, aufmerksam und freundlich. »Komm, mein Entlein«, sagte sie zu Winn und reichte ihm ihre Hand.
Weil Winn benommen war und der Boden weich und uneben, fiel es Biddy schwer, ihn aufzurichten. Das verletzte Bein schmerzte ihn sehr, und jedes Mal, wenn er es belastete, lief neues Blut aus der Wunde in seinen Strumpf.
»Die Muffins«, sagte er und deutete auf die Tüte im Gras.
»Erst kommst du.« Biddy wandte sich Otis zu. »Würden Sie mir helfen, bitte?«
Winn dachte, Otis würde nur seinen anderen Arm nehmen, aber zu seinem Entsetzen kniete sich der Caddie ins Gras und nahm ihn auf den Arm. Winn war nicht mehr getragen worden, seit er ein Kind war, und er hätte nicht im Traum damit gerechnet, je in den mächtigen Armen eines Mannes zu liegen, dessen Atem nach Heuboden roch. Er hörte sich wimmern. Er reckte den Kopf über Otis’ Schulter und sagte: »Biddy.« Sie stand vollkommen reglos da, eine erstaunte Hand vor dem Mund.
11 · Fleischwunden
D er Wal war tot, schon lange. Er war draußen auf dem Meer gestorben und, relativ unbehelligt von Haien, auf die Insel zugetrieben und in der Nacht an Land gespült worden. Bei Tagesanbruch hatte ihn ein Fischer entdeckt. Von Spaziergängern hatte Livia erfahren, dass es ein Pottwal war, doch wie groß er war, ob männlich oder weiblich und weshalb er gestorben war, konnte niemand ihr sagen. Francis war der Einzige, der mitkommen wollte, um ihn zu sehen, und sie machten sich gemeinsam vom Strand zu einer Felszunge auf, die eine schmale Landspitze bildete. Ein Mann, der ihnen auf einem Quad entgegen kam, erzählte, der Wal liege gleich hinter der Spitze. Er sei nicht zu übersehen. Er rieche schlimmer als alles, was sie sich vorstellen könnten. Noch auf ihrem Handtuch liegend hatte Livia den Eindruck gewonnen, dass ein stetiger Menschenstrom in Richtung Landspitze strebte, doch als sie den beliebten Abschnitt des Badestrands hinter sich ließen, waren sie auf einmal allein, neben sich nur das bröckelnde Steilufer. Hier und da führten Holztreppen zu den Häusern hinauf, die Jack Fenn vor dem Meer retten wollte.
Livias Stimmung war auf einem Tiefpunkt angelangt. Sie fragte sich, was Sterling wohl machte, warum er nicht an den Strand gekommen war – wollte er sie meiden? Sie hätte gern erlebt, wie er sich verhielt. Vielleicht wäre er anstelle vonFrancis mit ihr zum Wal gegangen. Vielleicht hätten sie sich unterwegs auf eine der Treppen gesetzt, um sich zu küssen – der Gedanke fuhr ihr angenehm und zugleich wie ein Angstgefühl durch den Magen. Sie schmeckte saure Reste von Alkohol.
Francis trug eine große eckige Plastiksonnenbrille, und an seiner Schulter prangte ein Sanskrit-Tattoo. Sie hatte ihn noch nie ohne Hemd gesehen, und er war stämmiger, als sie erwartet hätte, und behaarter.
»Ich verstehe nicht, warum sonst keiner mitwollte«, sagte sie.
»Wahrscheinlich wäre es dir lieber, Sterling dabeizuhaben.«
»Nein«, sagte sie. »Einen Wal kriegt man nicht jeden Tag zu sehen. Ich hätte gedacht, da würde jeder mitwollen. Aber sie wollen um Himmels willen nicht, dass etwas ihren schönen Tag am Strand unterbricht. Warum sollte man sich was ansehen, was gestorben ist, wenn man auch einfach dableiben und Strandball spielen kann?«
»Absolut«, sagte Francis. »Ich bin ganz deiner Meinung. Wale sind eigentlich nicht mein Ding, aber ich sehe es als Chance, etwas Richtiges zu erleben. Ich versuche der Welt eine geistige Offenheit entgegenzubringen.«
»Klar«, sagte Livia, ohne zu verstehen, was er meinte. »Echt, ohne Wale ist diese Insel überhaupt nicht denkbar. Wir alle hängen uns hölzerne Wale an die Wand und tragen Walhosen und haben walschwanzförmige Türklopfer und setzen blitzende Stahlküchen in alte Walfängerhäuser, aber wenn wir die Gelegenheit haben, Auge in Auge vor einen echten Wal aus Fleisch und Speck zu treten, kriegen wir den Hintern nicht hoch.«
»Ich hatte gestern Abend eine Walhose an«, sagte Francis. »Aber das war Ironie.«
»Sterling hat auch behauptet, sein Seersucker wäre ironisch gemeint.«
»Dann hat er meinen Witz gestohlen, und dann auch noch dich.« Francis klang niedergeschlagen.
Sie hatte gehofft, er hätte beschlossen, seinen halbherzigen Annäherungsversuch zu vergessen. »Ich glaube, euer Begriff von Ironie ist ein bisschen daneben«, sagte sie. »Wenn alle von einem erwarten, dass man Seersuckerhosen oder kleine Wale als Muster
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