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Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition)

Titel: Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Shipstead
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vermutlich merkten alle Lebewesen, wenn sie gefressen wurden.
    »Ich hab gehört, Teddy geht zum Militär«, sagte Francis mit hoher, dünner Stimme, weil er sich die Nase zuhielt. »Das muss schwer sein.«
    Livia zuckte mit einer Schulter. »Es ist sein Leben.«
    »Sicher. Weißt du, irgendwie beneide ich dich. Du scheinst Sachen wirklich zu fühlen. Ich bin mir nie sicher, ob ich echte Empfindungen erlebe, weil ich mich ständig frage, ob ich nur fühle, was ich meine fühlen zu müssen. Verstehst du?«
    »Ich denke schon.« Vom Gestank des Wals wurde ihr langsam übel.
    »Liebst du ihn noch?«, fragte Francis beharrlich weiter. Wieder eine vertraute Frage, auf die sie keine Antwort wusste.
    »Nein«, sagte sie.
    »Warum hast du aufgehört, ihn zu lieben?«
    »Ich weiß nicht. Aus Erschöpfung vielleicht.«
    Sie fragte sich, wann sie wirklich aufhören würde, Teddy zu lieben. Vor ihm hatte sie nur ihre Mutter, ihren Vater, ihre Schwester geliebt, und die Liebe war etwas gewesen, das den Regeln guter Manieren unterlag. Wenn ihr Vater von der Arbeit kam und sie schon im Nachthemd, die Haare noch feucht vom Baden, zu ihm gerannt war, um ihn zu umarmen, hatte er sie an den Schultern abgefangen und sie bloß mit trockenen Lippen auf die Wange geküsst. Gelang es ihr, sich leise anzuschleichen und seine Beine oder seinen Bauch zu umfangen, wurden ihre Arme sanft von seinem Körper gelöst, und sie durfte ihm aus höflicher Distanz einen Kuss geben. Schließlich lernte sie, was Daphne von Geburt angewusst zu haben schien: Er war am glücklichsten, wenn sie sich nicht anzuschmiegen suchte, sondern sich wie ein Soldat vor ihm aufbaute und ihm eine stramme Wange zum Kuss bot. Daphne war, obwohl sonst so mädchenhaft, nicht für Zärtlichkeiten oder Liebeserklärungen zu haben gewesen. Alles, was mit dem Ausdruck von Liebe zu tun hatte, hatte sie erst im Internat gelernt, wie Algebra. Die Herzlichste in der Familie war Livias Mutter. Sie antwortete: »Ich liebe dich«, wenn man es zu ihr sagte, und nicht wie ihr Vater: »Okay, Kleines.« Und für die Schule weckte sie sie mit einem flinken, aber sanften Rubbeln über den Rücken, als wollte sie Schnee von ihr abwischen.
    Zu Beginn von Daphnes erstem Jahr in Deerfield hatte sich ihre Mutter zwei oder drei Wochen lang jeden Tag, wenn Livia von der Schule kam, mit ihr in einen tiefen karierten Sessel gesetzt, ihr die Haare gestreichelt, und sie eine Stunde lang still auf dem Schoß gehalten, während sie aus dem Fenster guckten und die Vögel und Eichhörnchen in den sommergrünen Bäumen beobachteten. Beim ersten Mal war Livia überrascht gewesen, weil sie es gewohnt war, nachmittags sich selbst überlassen zu sein. Sie hatte sich vorsichtig auf dem schmalen Schoß ihrer Mutter eingerichtet und nur ganz allmählich an ihre Schulter sinken lassen, wo sie von Biddys gebräunten Armen umschlungen wurde und den neutralen Seifengeruch ihrer Haut und den scharfen Waschmittelgeruch ihrer Bluse eingeatmet hatte. Seit ihrer Zeit im Mutterleib hatte sie ihre Mama nicht mehr so für sich gehabt oder so viel von den Rhythmen ihres Körpers gespürt – das resolute Pochen ihres Herzens, das Ein- und Ausatmen ihrer Lungen –, und sie saugte das alles umso gieriger in sich auf, als die sinnlichen Freuden von Angst durchmischt waren,weil sie nie über diese Phasen der stillen Nähe redeten, auch nicht mit ihrem Vater und Daphne, so dass sie den Eindruck gewann, sie wären vielleicht etwas Verbotenes. Und dann geschah es eines Tages, als die ersten Blätter sich verfärbten, dass Biddy nicht zum Sessel ging, sondern Livia in der Küche ihren Imbiss hinstellte und dann allein nach oben ging. Es war das Zeichen, dass ihre Zeit der Zärtlichkeit vorüber war.
    »Manchmal geht eine Liebe einfach so zu Ende«, sagte Francis wie abschließend. »Ich wollte noch was zu gestern Abend sagen, als ich über Hannahs zu großen Busen geredet habe – nicht, dass du denkst, ich wäre oberflächlich. Das wäre mir sehr unangenehm. Als wäre Hannah für mich nichts als ihre Brüste.«
    »Ich glaube, es war von Titten die Rede.«
    »Hannah und ich passten seelisch nicht zusammen. Wenn sie die Richtige gewesen wäre, hätte ich es bestimmt gespürt. Aber ich bin eben auch empfindlich und öffne mich anderen nicht gern, weil ich dann verletzlich werde, und deswegen habe ich mich über ihre Titten ausgelassen.« Er sah Livia an, während er redete, aber sie schaute beim Gehen weiter geradeaus. »Ich unterhalte

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