Leichte Turbulenzen - Roman
auch? Sie hatte ihm keinerlei Interesse signalisiert. Früher hätte sie zu allem »Ja!« gesagt. Damals – als ihr Funke noch glühte – hatte Javis sie auf einer Studentenparty begeistert unter einen Tisch gezogen, es gab sogar Beweisfotos, wie sie lachend versuchte, ihren Rock auszuziehen, um ihm zu beweisen, wie hemmungslos und frei sie war.
War Desmond auf der Suche nach einer Frau, mit der er eine Familie gründen konnte? Wollte er ankommen? So nannte man das doch. Ankommen. Ankommen in der eigenen Idee.
Ivy erhob sich von ihrem Sessel und ging hinüber zum Bücherregal, das schon in ihrem Jugendzimmer im Wendland gestanden hatte. Während des Studiums war kein Geld da gewesen, um sich ein neues zu kaufen, also hatte sie es nur hellblau lackiert. Und danach hatte sie andere Probleme zu lösen gehabt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und angelte nach der verstaubten Whiskeyflasche, die ganz oben auf den Kunstbüchern lag. Sie bekam den Deckel zu fassen, und schon auf dem Weg zurück zum Sessel schraubte Ivy die Flasche auf und trank den goldbraunen Rest in einem Zug aus. Vielleicht wusste Desmond aber auch gar nicht, was seine eigene Idee vom Leben war. Womöglich wollte er ein erfolgreicher Komponist werden, den man nicht bei seiner Arbeit stören durfte. Auf den Gedanken kam er nur gar nicht, weil er das Familienkonzept seiner Eltern für sein eigenes hielt. Und Ivy hatte als Symbol mitfliegen sollen, um den Eltern das gute Gefühl zu geben, dass es bald Enkelkinder geben würde. Dass die Menschen alle dachten, dass das der einzige Weg war, adäquat auf der Erde zu existieren. Sie war doch nicht dämlich und ließ sich ihr Leben madig machen, weil sie diesem Konzept nicht folgen konnte! Vermutlich hatte Nathalie recht, Ivy wollte gar keinen Mann.
Aber: Was wollte sie dann?
Die Wochenenden im Vicky Park beim Angeln verbringen – so wie Willem? Der hielt seine Rute doch auch nur in den See, um nicht zu fühlen, wie unglücklich und einsam er unleugbar war.
Mit dem Alkohol im Blut wurde Ivy ganz warm und weich ums Herz. Ihr Blick verfing sich im smaragdgrünen Läufer, den ihre Mutter in der Diele ihres ausgebauten Bauernhauses gewebt hatte. Jetzt lag der schmale Teppich hier und verströmte noch immer die Erinnerung an Kindheitstage. Treuer Wegbegleiter. So nannte man doch Gegenstände, die einen bis in den Tod begleiteten, oder?
Es war, wie es war: still.
Ivy legte sich bäuchlings auf den Boden. Neulich hatte ihr Nathalie am Telefon erzählt, dass jetzt alle im Prenzlauer Berg Familien gründeten, süße cremefarbene Kinderzimmer im französischen Stil einrichteten und die Geburtshäuser oder die Operationssäle belagerten. Kaiserschnitte waren ziemlich angesagt, wie Nathalie wusste. Um die Babys sanft und geschmeidig auf die Welt zu bringen. Wodurch sie aber einen satten Schock erlitten, sobald ihnen das Leben die ersten Herausforderungen stellte. Nathalie selbst hatte zu viel Angst vor der Narkose gehabt und vorsichtshalber in einem anthroposophischen Geburtshaus mit Klinikanbindung entbunden. Zur Sicherheit.
Eine wildfremde Frau zum Thanksgiving einzuladen, war aber auch keine Lösung.
Ivy sah dicht über den Dielenboden hinweg, der mit einer dünnen Staubschicht überzogen war, hinüber zur Steckdose neben der Tür, in der ihr alter Staubsauger seit ungefähr zwei Wochen unbenutzt steckte. Sie wollte sich nur noch auf Dinge konzentrieren, die sie auf dem Pfad des Glücks hielten. Nie wieder wollte sie etwas gegen ihren Willen tun. Dazu musste sie sich jetzt eine Liste machen. Eine Liste, die veranschaulichte, welche Steine Ivy hintereinanderzulegen hatte, damit daraus der ultimative Pfad des Glücks entstand. Womöglich stimmte, was ihr Vater gerne sagte: »Der Weg ist das Ziel.«
Sie rappelte sich auf und knipste ihre Schreibtischlampe an. Bis vor zwei Jahren hatte sie noch häufig gezeichnet. Meistens ihren nackten Körper, um für später einen Beleg dafür zu haben, wie wohlgeformt er einmal gewesen war. Mit einem riesigen Skizzenblock hatte sie sich vor den schmalen Spiegel gestellt, der neben dem Kleiderschrank hing, und sich mit Kohle verewigt. Überhaupt musste ein guter Bildhauer im Schlaf wissen, an welchen Stellen ein menschlicher Körper Dellen und Wölbungen aufwies. Die Aktzeichnungen ihres jungen Körpers lagen in den verstaubten Sammelmappen unterm Bett.
Aus der Schublade nahm sie ein weißes Blatt Briefpapier, auf dessen Kopf eine goldene Krone eingeprägt war. Alice
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