Leichte Turbulenzen - Roman
eine ganz eigene Welt zu erfassen, die viel wunderbarer und wahrhaftiger war als die Welt, die all die anderen Menschen sahen. Er schien sich zu fragen, warum niemand seine wabernde Welt bemerkte, wenn sie doch viel lebendiger war. Nur so hätte er sich mit den Menschen verbinden können. Und von dieser Sehnsucht getragen, hatte er gemalt, was er sah. Doch die Leute um ihn weigerten sich zu erkennen, folglich blieb er alleine. Darum also schuf van Gogh Selbstbildnisse, um sich im eigenen Blick zu spiegeln. Er war gefangen in seiner Welt, in der die Formen einem ständigen Wandel unterlagen, alles flüchtig war, nichts unbewegt blieb, sondern sich stetig neu formierte und sich eins aus dem anderen ergab. Alles lebte. Und Ivy war allein. Und betrunken. Gott, war sie betrunken von den paar Schlucken widerlichem Whiskey.
Eve drückte die halb aufgerauchte Zigarette aus. »Ich überlege ja, ob ich Psychopharmaka nehmen sollte. Solche Gemütsaufheller. Etwas gegen Depressionen. Eine Arbeitskollegin von mir nimmt die. Das weiß natürlich keiner. Weder die Schüler noch die anderen Lehrer. Aber sie war so gestresst vom Unterricht, dass sie ihn nicht mehr ohne ertragen hat. Seitdem sie sich hat Psychopharmaka verschreiben lassen, läuft für sie alles ziemlich gut. Sie ist relaxt. Die Schüler sind relaxt. Der Unterricht ist relaxt. Alle sind relaxt.«
Neben Ivy blinkte das Display ihres Handys bläulich auf. Es war Alice. Vermutlich brauchte auch sie Beistand. Ivy hielt das Telefon hoch. »Entschuldige, es ist Alice, du weißt schon, die Psychologin. Ich müsste da mal eben. …«
»Meinst du, sie kann mir Psychopharmaka verschreiben, wenn sie dich demnächst mal wieder besuchen kommt?«
Bevor Ivy abheben konnte, brach das Klingeln plötzlich ab. Sie legte das Handy verkehrt herum auf ihren Nachttisch und blickte Eve an. »Ich werd sie fragen. Aber glaub mir, du brauchst keine Psychopharmaka. Wann immer du deine Tage bekommst, denk daran, es sind die Hormone. Erinnere dich daran, die Wut geht vorbei. Und hör auf, Frank zu ohrfeigen. Er tut dir doch gar nichts.«
Eve erhob sich vom Sessel und ließ die Arme hängen. »Ich will ihn aber hassen.«
»Warum das denn?«
»Wen soll ich sonst für meine Unzufriedenheit verantwortlich machen?«
»Aber er liebt dich doch.«
»Tut er nicht. Ganz ehrlich, Ivy, ich komm nicht drüber weg, unter welchen Umständen er mir damals den Heiratsantrag gemacht hat. Seitdem ist mein Vertrauen irgendwie in ihn zerstört. Ich meine, er taucht da einfach beim sechzigsten Geburtstag meines Vaters auf, den er damals in Sevilla gefeiert hat. In diesem wunderschönen alten Hotel, direkt an der gigantischen Kathedrale Santa Maria de la Sede. Im Innenhof hatten sie ein üppiges Büffet mit Paëlla und den ganzen Tapas aufgebaut, und er dachte, ich falle ihm voller Dankbarkeit um den Hals, nachdem ich alleine nach Jerez fliegen und ohne Navi mit dem Auto weiter nach Sevilla fahren musste, weil er wegen seiner Dozentur nicht hatte mitkommen wollen. Und plötzlich tippt mir so eine Kellnerin, so eine Serviererin vom Hotel auf die Schulter und meint, ein Herr würde auf der Dachterrasse auf mich warten. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht – du weißt, ich habe damals während der Uni ein paar schräge Dinger abgezogen, die Sache mit dem Rubinhandel in Thailand, ich dachte, Gott, ich werde verhaftet, oder Interpol sucht mich.«
Bevor Eve mit ihrer unfassbaren Geschichte fortfuhr, stellte sie den Schraubdeckel mit den beiden Zigarettenkippen auf die Sessellehne, von da aus rutschte er aufs Polster und gesellte sich zu Ivys Verlobungsring. »Entschuldige.« Emsig fegte Eve die Asche mit der Handkante in die hohle Hand. »Entschuldige. Ich bin so … Na ja, auf jeden Fall kam ich dann da hoch auf die Dachterrasse, es war ein herrlicher Tag, Anfang März, ich kam hoch, der Himmel war strahlend blau, und da stand er . In kurzen Hosen, mit einer auf der Straße gepflückten, von Tauben zerhackten Orange in der Hand.«
Ivy lächelte. »Ist doch süß.« Es roch ziemlich heftig nach Javis’ Zigarettenqualm.
»Eben nicht. Wie hätte ich Nein sagen sollen? Konnte ich ja gar nicht. Sonst hätte ich meinem Vater den Geburtstag ruiniert, mit einem betröppelten Frank. Schon allein sein geknicktes Gesicht hätte ich nicht ertragen. Dabei wollte ich ihn gar nicht heiraten.«
»Bitte?«
Eve ging zur Tür, öffnete sie und ging hindurch. »Bitte frag deine Freundin nach den Psychopharmaka, ich will, dass
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