Leichte Turbulenzen - Roman
nur für sinnvoll, ab und an die Augen zu schonen. Erst neulich habe ich in einem Fachblatt für Augenheilkunde gelesen, dass sich die Sehkraft abnutzt, wenn man zu viel sieht.«
»Bitte?«
Wieder hörte Collin Willems Kittel rascheln. Jetzt musste er ungefähr auf Höhe seines antiken Schreibtisches von 1879 stehen, den Madeleine ihm ebenfalls ausgesucht hatte. Was ihm, dem frischgebackenen Single Collin, plötzlich für irre Behauptungen einfielen! Einfach so. Mit Leichtigkeit. Dabei hatte er sich gerade erst schmerzhaft von seiner Identität als Ehemann verabschieden müssen. Er lächelte mit geschlossenen Lippen und zog leicht die Augenbrauen hoch. Das Leben war so schön. Das dachte er, bevor er heiter bemerkte: »Ich konnte es auch nicht glauben. Aber so ist es. Gucken macht blind, wenn man so will.«
»Macht dann Hören taub?«
Willem schluckte. Das war doch komplett unlogisch. Wozu hatte man denn dann seine Sinnesorgane? Fortier hob seinen linken Zeigefinger: »Ja! Und Lieben macht gefühlskalt.«
Willem atmete erleichtert auf. »Na, dann hab ich ja Glück, dass ich gerade niemanden zum Lieben habe.«
»Sehen Sie! Daraus ergibt sich eine philosophische Frage: Verzichtet man aufs Sehen, um nicht zu erblinden? Verzichtet man auf die Liebe, um sie nicht zu verlieren? Verzichtet man aufs Leben, um nicht zu sterben? Denken Sie darüber nach!«
Er war genial. Collin Fortier fühlte das Leben durch sämtliche Venen und Arterien pumpen. Wie genial er war! Das machte die Liebe, die Verrücktheit nach Ivy. Sie brachte in ihm etwas zum Pulsieren, etwas nie Dagewesenes. Sie schenkte ihm plötzlichen Ideenreichtum. Es war faszinierend. Diese Kreativität in ihm zu erwecken, hatte nicht einmal Madeleine geschafft, obwohl sie diese unglaublich fordernde Begabung besessen hatte, sich Zweit- und Drittidentitäten zuzulegen. Je nachdem, auf wen sie traf, mutierte sie gerne zur politisch Vertriebenen, oder aber sie sah sich als gescheiterte Feministin, die zum Opfer ihres patriarchalisch agierenden (Ex-)Ehemannes geworden war. Am erfolgreichsten hatte sie allerdings die liebende und aufopfernde Ehefrau mimen können und er war gutgläubig wieder besseren Wissens darauf eingestiegen. Natürlich wusste Collin, dass er Willem verwirrte. Er sagte ja nichts. Fortier sah hinaus ins Himmelszelt seiner geschlossenen Lider. Hinein in die unendliche Weite des Orbits. Hier, in diesem grenzenlosen Raum, schwebte er und wurde doch weich und sicher gehalten von seinem nach Leder duftenden Sessel. Mit den Fußspitzen berührte er geradeso den Teppich. Er trippelte darüber hinweg, um sich in seinem zurückgeklappten Sessel in Willems Richtung zu drehen. Offenbar hatte der sich an eins der Fenster gestellt. Denn von da aus hörte er ihn nun etwas ungeduldig fragen: »Worüber wollten Sie denn nun eigentlich mit mir sprechen? Gibt es etwas, was ich für Sie tun kann?«
Wieder hob Mister Fortier seinen linken Zeigefinger. Es war faszinierend, wie sehr man sich mit geschlossenen Augen selbst wahrnahm. Sogar das Heben des linken Zeigefingers bekam man voll bewusst mit. »Mich interessiert, um ehrlich zu sein, wie Sie sich grundsätzlich mit Ihrer Kollegin Ivy Bachmann verstehen.«
Willem fuhr sich hektisch durchs Haar. »Gut. Wieso?« Jetzt keinen Fehler machen. »Sehr gut sogar. Wir können sehr gut zusammen in einem Atelier arbeiten. Wir unterstützen uns gegenseitig.«
»Mir ist wichtig, dass wir hier ein entspanntes Arbeitsklima hinbekommen, verstehen Sie?«
»Ja.« Willem spürte die Panik in sich aufsteigen. Was hatte Fortier ihm vorzuwerfen? Willem war gefangen in einem Albtraum. Seine Beine schienen aus dieser quietschbunten Play-Doh-Knetmasse zu bestehen, für die im Fernsehen geworben wurde. »Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen! Ich fange früher an als alle anderen und gehe als Letzter. Neulich haben mich die Sicherheitsleute sogar eingeschlossen, sodass ich gar nicht mehr aus dem Treppenhaus herauskam.« Willem holte tief Luft. Er war nahe dran, zu brüllen. »Ich weigere mich nicht, Interkontinentalflüge anzutreten, und hänge dem Zeitplan nie hinterher. Eine Gehaltserhöhung habe ich im letzten Herbst abgelehnt, nur das Weihnachtsgeld habe ich gewagt zu nehmen.«
»Und da dachte ich«, Fortier hob wieder seinen Zeigefinger, »da dachte ich also, dass es längst an der Zeit ist, Ihnen zur Anerkennung einen Schlüssel für unser Haus zu überreichen. Um den haben Sie mich ja schon vor geraumer Zeit gebeten, Mister
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