Leichte Turbulenzen - Roman
Jetzt hatte er vor lauter Aufregung die Artikelnummer vergessen, ebenso die für die Farbe seiner matten Lippen und seiner nicht ganz unkomplizierten Lidpartie. Willem spähte hinüber zur Lithografie von Madame Tussauds von 1778, die im üppigen Goldrahmen an der seidenbespannten Wand hing. Wie fröhlich sie wirkte mit ihren siebzehn Jahren und den Rosenblüten im toupierten Haar. Dieser verschmitzt in die Zukunft grinsenden Person hatten sie all das hier zu verdanken. Wie gerne er sich einmal persönlich mit dieser schwungvollen Marie unterhalten hätte, um von ihrem Wissen und ihren Erkenntnissen und ihrer Leidenschaft für das Modellieren zu profitieren. Willem hätte ihr gerne gesagt, wie leid es ihm tat, dass 1925 so viele ihrer Figuren durch einen schlimmen Brand vernichtet worden waren und dass er unerschüttert alles daran setzte, ihr wunderbares Erbe fortzuführen.
Wenn man ihn nur ließ.
Willem räusperte sich. Er war restlos angespannt. Er wollte endlich wissen, was Fortier überhaupt von ihm wollte. Wenn sein Chef ihm jetzt eröffnete, dass Chelsy befördert würde, war er mental und auch magentechnisch geliefert. Mal abgesehen vom Angeln hatte er nichts in diesem Leben. Er würde Chelsy umbringen. Er konnte unmöglich sein restliches Leben mit Angeln verbringen, sowieso würde der Westsee im Vicky Park irgendwann höchst persönlich von ihm leer geangelt sein. Es war schon jetzt nicht so ganz leicht, da einen ordentlichen Karpfen rauszuziehen. Wie nur brachte man eine Frau um? Das würde er heute Abend, auf dem Bett liegend, herausfinden. Auf YouTube würde er sich das Best of von Cold Case – Kein Opfer ist je vergessen ansehen. Bestimmt bekam er da einige Anregungen und auch Tipps, welche Fehler man beim Morden vermeiden sollte, um anschließend nicht erwischt zu werden. Bei solch kriminellen Unternehmungen war es unerlässlich, dass man keine Spuren hinterließ. Gar keine! Andererseits ärgerte es Willem inzwischen maßlos, dass dieser Fortier ihm alles kaputt machte, was er im Dunkeln hinsichtlich der Kolorierung von Jesse James’ Gesicht herausgefunden hatte. Ganz zart, ganz zart wollte er ihm einen Hauch von Eleganz verleihen, nicht zu viel herumexperimentieren. Ganz hauchzart wollte er sich an sein Gesicht herantasten, mit dem American Outlaw ins Gespräch kommen, ihn in eine leichte Plauderei verwickeln, um ihn bei Laune zu halten. Ehrfürchtig machte Willem ein paar zögernde Schritte auf das Porträt von Madame Tussauds zu und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Am Ende war sie genauso verrückt gewesen wie er. Wie er recherchiert hatte, hatte sie zum Teil mit echten Zähnen gearbeitet. Einmal – so ging die Legende – hatte sie beim Anfertigen eines Gesichtsabgusses wohl vergessen, ihrem lebenden Modell Strohhalme in die Nasenlöcher zu stecken, damit es während der Prozedur weiteratmen konnte. Um ein Haar wäre ihr Modell ums Leben gekommen. Die absolute Priorität eines echten Madame-Tussauds-Bildhauers war es nun mal, die Wachsnachbildungen so naturgetreu wie möglich hinzubekommen. Darin bestand das unumstößliche Bildhauerethos. Von Mister Fortier wollte er nicht daran gehindert werden, sein Meisterwerk zu vollbringen. Willem kam langsam wieder in Fahrt und klatschte in die Hände. »So.«
Ohne seine Augen zu öffnen, hob Fortier leicht seine rechte Hand. »Ich grüße Sie, Mister Clark.« Er hörte Willem schnaufen. Seiner Einschätzung nach stand er höchstens eineinhalb Meter vom Madame-Tussauds-Porträt entfernt. Collin vernahm das leichte Rascheln des Malerkittels. Willems tastende Schritte wurden gedämpft durch den dicken dunkelgrünen Teppichboden, den Madeleine zu Beginn ihrer Ehe für sein Büro ausgesucht hatte. »Collin, du sollst es in deinem Office gemütlich haben. Wie bei uns zu Hause.«
Da Willem nicht antwortete, hätte Fortier beinahe seine Augen geöffnet. Aber zu seiner eigenen Begeisterung schaffte er es, die Lider geschlossen zu halten. Er hatte einen Deal mit sich abgeschlossen. Er wollte es schaffen, Willem nicht allzu direkt nach Ivy auszufragen. Schließlich durfte sein misstrauischer Mitarbeiter keinen Verdacht schöpfen. Um sich bei dieser kniffligen Spionageaktion unter Kontrolle zu halten, hatte Fortier sich also vorgenommen, sich derart zu disziplinieren, dass er nicht einmal die Augen öffnete. Da Willem nichts sagte, fuhr Fortier fort: »Verzeihen Sie, dass ich nicht meine Augen öffne. Nehmen Sie es nicht persönlich, ich halte es
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