Leichte Turbulenzen - Roman
hab neues Material für meinen Stammbaum von Onkel Hans aus Buenos Aires bekommen. Er hat alte Briefe und Unterlagen unseres Vaters gefunden, in dem die Geburtsdaten seiner Adoptivmutter und die ihrer Eltern stehen. Da wollte ich recherchieren, wo deren Wurzeln liegen.«
»Kannst du das nicht später machen? Bitte!«
»Sicher.«
»Danke.«
»Ich bin nur gerade so angefixt. Ich habe nämlich den Eindruck, die Kopien der Kirchenbücher, die mir Hans eingescannt und rübergemailt hat, sind fehlerhaft. Ich weiß nicht, ob er sich da mit mir einen Spaß erlaubt oder aber ob da schon im letzten Jahrhundert an den Fakten herumgeschraubt wurde. Ich werde einige Gemeinden durchtelefonieren müssen, um an die Originale heranzukommen.«
Nathalie riss sich die Stöpsel aus den Ohren, schaltete das Handy aus und brauchte einige Augenblicke, um sich wieder zu beruhigen. Kreisten alle nur um sich selbst? Dass ihr Vater sich mit Heidi die Tage um die Ohren schlug, grenzte an Verrat. Diese Frau hatte ihre Mutter konsequent auf den Gemeindefesten ignoriert, sich dafür aber besonders intensiv mit Walter unterhalten, der Jahr für Jahr den Grill bediente. Diese Heidi sollte es wagen, sich in ihre Familie hineinzudrücken! All die Jahre hatte sie doch nur darauf gewartet, sich nach Heiners Tod endlich an Walter heranmachen zu können. Aus diesem Traum würde nichts werden. Nathalies Vater war mit ihrer Mutter verheiratet gewesen. Bei dieser getroffenen Entscheidung sollte er, Nathalies Ansicht nach, auch bleiben. Wo kam man denn dahin, wenn man sich immer wieder einen neuen Partner suchte? Man verriet die große Liebe! Nicht auszudenken, dass Peer sich eine neue Frau suchte, sollte Nathalie verunglücken. Er würde schön alleine bleiben bis an sein Lebensende und sie in wacher Erinnerung behalten.
Doch egal, wie sehr sie sich dagegen wehrte, Nathalie musste sich vorstellen, wie Peer nach ihrem Ableben mit einer anderen Frau neu durchstartete. Mit einer, die mitten im Berufsleben stand. Womöglich mit einer erfolgreichen Journalistin, die gerade ihren zweiten Bestseller über Kind & Karriere herausgebracht hatte.
Nathalie würde Peer nicht auf die Starbucks-Quittung über die zwei gekauften Caffè Mocha ansprechen, die sie heute Morgen in seiner Anzughose gefunden hatte. Sie würde ihre Entdeckung für sich behalten. Außer ausweichenden Erklärungen würde sie sowieso nichts von ihm zu hören bekommen. Nathalie wollte sich nicht vergegenwärtigen, was ihr Mann tagsüber heimlich tat. Gerade war sie in der Stimmung, alles für möglich zu halten. Sie würde ihn nicht fragen. Noch nie hatte sie sich so abgetrennt von ihm gefühlt. Oh, fühlte sich das beängstigend an. Nathalie war nahe daran, in den Straßengraben zu rasen, mit Lucy auf der Rückbank. Was, wenn sie den Wagen jetzt hinüber auf die entgegengesetzte Fahrbahn zog? Voll rein, in den entgegenkommenden Verkehr. Damit diese quälende Verlustangst endlich, endlich aufhörte.
Nathalie hatte doch schon jahrelange Life Coachings hinter sich, um diese typisch weibliche Eifersucht zu besiegen, die immer wieder an ihren Körperinnenwänden emporkroch und sich wie eine kalte, stählerne Hand um ihr armes Herz legte. Gut, dass ihre kleine Lucy sich nicht mehr rührte. Nathalie warf einen langen Blick in den Rückspiegel, ihrer schlafenden Tochter war der Schnuller aus dem Mund gerutscht und lag jetzt vermutlich im Fußraum. Gut, dass Lucy nicht quengelte, denn Nathalie hatte, entgegen ihrer Gewohnheit, keine Rohkostknabberei dabei. In diesem nervlich instabilen Zustand konnte sie nicht an einer Tankstelle anhalten, um beim Tankwart ein mit Benzin verseuchtes Sandwich zu kaufen. Es tat gut, die Autobahn mit überhöhter Geschwindigkeit hinunterzurasen. Mit der Aussicht auf einen schweren, tödlichen Unfall.
Walter stand im kamelbraunen Lambswoolpullover mit vor der Brust verschränkten Armen auf dem Hof. Feine Nebelschwaden stiegen aus dem Boden auf und kräuselten sich um seine Knöchel. Sein Atem stand als milchige Wolke in der Luft, über ihm blinkten die Sterne. Auf dem Nachbarhof hämmerten die neuen Eigentümer seit dem Mittag hilflos an dem baufälligen Dach herum, um es irgendwie winterfest zu machen. Von der über die Jahre stark geschrumpften Wagenburg, deren rostige Trailer am Ortseingang zwischen den Birken längst nicht mehr in einer Defensivformation standen, hörte er vereinzelt Kinderstimmen, die nach ihren semiaktiven Eltern riefen. Zum Zeichen ihres trägen
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