Leichte Turbulenzen - Roman
Hauptgebäude. Walter öffnete hinten die Seitentür und setzte sich lächelnd neben seine Enkelin auf den Rücksitz. Peer musste über ein beachtenswert dickes Fell verfügen, um sich nicht persönlich angegriffen zu fühlen. Als Lucy ihren Opa erkannte, hörte sie schlagartig auf zu quengeln und versteckte ihr Gesicht verschämt hinter der Seitenschale des riesigen Kindersitzes. Walter zog die Wagentür sanft hinter sich zu. »Na, mein kleines Würmchen. Kommt ihr mich besuchen?«
Draußen hastete seine Tochter mit angespannter Miene wieder über den Hof zurück zum Auto. Sie knallte die Kofferraumklappe zu, der Wagen schaukelte, und zum zehnten Mal in dieser Stunde schaltete sie ihr Handy ein, um zu prüfen, ob Peer sich inzwischen gemeldet hatte. Mittlerweile war es halb acht. Er musste also längst aus dem Büro nach Hause gekommen sein. Gegen Viertel nach sechs war er meistens da. Und zu seiner Überraschung würde seine Familie heute nicht wie sonst fröhlich im Windfang auf ihn warten. Ja, tatsächlich! Seine »beiden Frauen« waren allezeit verlässlich zu Hause. Wie praktisch für ihn. Nie musste er sich darüber Gedanken machen. Das war ganz normal, dass sie zu Hause waren, wenn er kam. Nie hatte er einen Zweifel daran haben müssen. Bis heute.
Zu Nathalies großer Entspannung hatte Peer inzwischen sechsmal angerufen. Wie weggeblasen war die tiefe Verzweiflung. Dafür stieg der süßeste, herrlichste Triumph in ihr auf, als stünde sie gerade ganz oben auf dem Siegertreppchen und würde vor den Augen der Welt die Goldmedaille verliehen bekommen. Für ihre besonderen Verdienste. Für ihre ganz persönliche Höchstleistung. Genüsslich hörte Nathalie sich seine Ansagen auf der Mailbox an. Zuerst klang ihr Mann noch relativ ahnungslos: »Hallo, meine süßen Frauen, wo seid ihr? Papa ist zu Hause, nur ihr nicht. Was macht ihr denn Hübsches? Seid ihr noch schnell etwas fürs Abendbrot einkaufen? Kommt ihr gleich wieder, damit wir es uns gemütlich machen können?«
Oh, es reichte schon, sich diese dümmliche Ansage anzuhören, dass eine gewaltige Wutwelle durch Nathalies Körper schwappte. Wie eindimensional ihr Mann war! Klar, das Einzige, was sie und Lucy in seinen Augen auf die Reihe bekamen, war noch »schnell« ein bisschen was einzukaufen. Weil sie, trottelig, wie sie waren, mal wieder etwas vergessen hatten. Was?
Die zweite Ansage, zehn Minuten später, klang schon etwas besorgter. »Hallo, hier ist Papa. Wo seid ihr denn? Ich bin schon seit einer Viertelstunde zu Hause. Nur ihr nicht. Ich erreiche euch auch nicht. Wo seid ihr denn? Ruft mal den lieben Papa an, wenn ihr das hört.«
Ha! Nathalie atmete tief ein und aus, um sie herum rauschten die Erlen, die Linden und der Ahorn. Das trockene Laub knisterte, und ab und an fiel ein welkes Blatt herunter. Über ihr spannte sich der wolkenlose, dunkle Abendhimmel, mit Sternen gespickt. Sie war zu Hause. Sie atmete die frische Luft ein und mit ihr den Frieden und die Behaglichkeit ihrer Kindheit. Und wenn sie einen Schutzwall mit Selbstschussanlage errichten musste, Heidi würde es nie schaffen, einen Fuß auf den Boden zu setzen, auf dem sie, Nathalie, aufgewachsen war. Viel zu tief war sie noch darin verwurzelt. Nie würde Heidi Nathalies Kindheit entweihen. Walter war der Großvater ihrer Tochter. Lucy brauchte ihn. Das allein war seine Aufgabe. Sie würde Peer zappeln lassen. Bis Mitternacht würde sie ihn zappeln und sich Sorgen machen lassen, damit er endlich mal merkte, dass es nicht selbstverständlich war, dass seine beiden Frauen geduldig auf ihn warteten. Nathalie war endlich heimgekehrt, sie spürte die ursprüngliche Kraft, die Sicherheit, den Schutz dieses Ortes, der den Schlüssel zu dem enthielt, was eigentlich in ihr steckte. Hier, unter der dunklen, sandigen Erde, unter all dem heruntergefallenen Laub, lag ihr Traum in einer schweren Truhe verborgen, wer sie hatte sein wollen. Morgen würde sie die Truhe heben und bergen. Sie würde sich ihren ganz persönlichen, alles überstrahlenden Traum mit dem Öffnen der Truhe wieder einverleiben und unter seinem stolzen und unanfechtbaren Geleit losziehen und sich selbst verwirklichen.
Peer war es nicht, der das Zepter in der Hand hielt.
Die dritte Ansage, acht Minuten später, klang nun richtig besorgt: »Hier ist Papa, wo seid ihr denn? Ich mache mir Sorgen, ist euch etwas passiert? Bitte ruft an!«
Nathalie blickte kurz ins Innere des Wagens, wo ihr Vater mit Lucy im Dunkeln
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