Leichte Turbulenzen - Roman
endlich von einer erschütternd jungen und extrem nervösen Assistenzärztin, die offenbar zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt ein Stethoskop benutzte, untersucht und leichtfertig für völlig gesund erklärt worden, woraufhin Nathalie darauf bestanden hatte, auf den Chefarzt zu warten, der schließlich merklich verärgert nach weiteren zwei Stunden auf das gleiche Ergebnis kam. Na gut. Schon möglich. In diesem speziellen Fall hatte Nathalie vielleicht etwas überzogen reagiert. Peer hatte recht: Sie sollte damit aufhören, Krankheiten zu googeln. Dennoch: Immerhin hätte es ja sein können, dass etwas mit Lucy nicht stimmte. Seit Nathalie 1995 den Film Outbreak – Lautlose Killer gesehen hatte, in dem sich Killerviren durch einen harmlosen Huster blitzschnell im Kinosaal verbreiten, litt sie unter Hypochondrie. Und auch diese Symptome hatte sie gegoogelt. Und nun zeigte sich, wie ihr Mann auf ihre irrationale, dennoch quälende Not reagierte. Nämlich gar nicht. Und exakt das war der Grund, warum Nathalie jetzt mit Lucy Richtung Wendland fuhr. In die Blaue Stunde hinein. Gewaltig dramatisch sah es am Horizont aus. Wie das letzte Szenenbild der Oper Tosca , in dem sich die schöne Liebende vor Verzweiflung in den Tod stürzt. Da, in diesen gewaltigen und alles verschlingenden Himmel, wäre Nathalie gerne direkt hineingefahren, um sich von ihm verschlucken zu lassen.
Peer würde am Abend eine komplett verwaiste Wohnung vorfinden – wie der letzte Mensch auf der Welt würde er sich vorkommen. So wie seine Frau sich täglich vorkam: wie der letzte Mensch, von dem niemand Notiz nahm, der kein Anrecht auf Sozialkontakte mehr hatte. Vor drei Jahren hatte sie zum letzten Mal einen aufrührerischen Essay für die Zeitung geschrieben. Das Thema war, warum Männer und Frauen unmöglich platonisch miteinander befreundet sein konnten. Von vielen betroffenen Frauen war ihr für diesen Artikel Sympathie bekundet worden, den sie in allererster Linie für Peer geschrieben hatte, der sich stoisch weiterhin montagnachmittags mit seiner besten Freundin Ariane im Café getroffen hatte, während Nathalie sich zu Hause um den Haushalt, die frisch geborene Lucy und ihre journalistische Tätigkeit gekümmert hatte. Damals hatte sie es unter enormer Kraftanstrengung hinbekommen, pro Woche noch einen polarisierenden Essay fürs Gesellschaftsressort der Sonntagszeitung zu schreiben, während sie Lucy stillte oder die Windeln wechselte. Nach einem Jahr war sie im Bad ohnmächtig zusammengebrochen, und Peer hatte besorgt festgestellt, es sei an der Zeit, dass Nathalie sich ein wenig schonte.
Das kam dabei heraus: eine Art Kaspar-Hauser-Schicksal.
Der Tag war einfach zu voll mit all den anderen Dingen, die auch noch zu erledigen waren, um nicht im Chaos der eigenen vier Wände unterzugehen. So etwas wie Hausarbeit und Kindererziehung wurde ja in dieser Gesellschaft überhaupt nicht goutiert. Diese Art der Arbeit fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Offenbar war sie nichts wert. Niemand mit Rang und Namen kam und klingelte an der Tür, um festzustellen: »Unglaublich, wie toll Sie Lucys Spielzeug in die Plastikboxen räumen. Sie werden befördert!« Oder: »Haben Sie etwa heute auch noch die gesamte Wäsche gewaschen, in den Trockner gestopft, Staub gesaugt, die Betten neu bezogen und die Toilette geputzt? Sie bekommen eine Gehaltserhöhung!« Hätte Nathalie geahnt, wie chancenlos das Schicksal von studierten Müttern in diesem Land aussah, vielleicht hätte sie einfach – Nathalie warf einen verschämten Blick in den Rückspiegel –, vielleicht hätte sie damals darauf verzichtet, Mutter zu werden. Das hierarchisch durchstrukturierte Arbeitsleben hörte ja schlagartig mit der Geburt des Kindes auf, während der Mann seine Stärken und Begabungen im Vergleich und im Wettkampf mit seinen Kollegen ungehindert weiter austesten konnte und zufrieden seine Erfolge feierte. Er bekam E-Mails von seinen Mitarbeitern, witzige E-Cards mit Geburtstagsgrüßen von der Sekretärin, plauderte auf dem Gang mit dem Chef, erntete Schulterklopfer für erfolgreich abgewickelte Geschäfte und ging nach Feierabend zum Sport, um sich verdientermaßen zu entspannen. Bedankte sich irgendjemand bei den Frauen, dass sie sich mit ihren Kindern in volle Kinderarztpraxen setzten, um dort den Vormittag tot zu schlagen und sich in einem Schwung alle erdenklichen Kinderkrankheiten abzuholen?
Nathalie zog von Whitney Houston die Best-of- CD aus der
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