Leichte Turbulenzen - Roman
Hülle. Die erinnerte sie an das Nelson Mandela 70th Birthday Tribute Concert am 11. Juni 1988 im Wembley-Stadion, bei dem auch Tracy Chapman mit ihrer akustischen Gitarre und den Stummeldreadlocks aufgetreten war. In ihrem drei Nummern zu großen Tweedjackett mit den riesigen Schulterpolstern hatte Whitney Houston einen Song nach dem anderen in Londons bläulichen Abendhimmel intoniert, und Nathalie hatte ihr aus dem Wendland dabei verzaubert zugesehen und geglaubt, auch ihr sei für die Zukunft die Bewunderung all ihrer Mitmenschen gewiss. Im Grunde genommen war die junge Whitney Houston Nathalies Rolemodel, genau wie Alexis Colby aus dem Denver Clan oder die noch unverbrauchte Elizabeth Taylor.
Alle drei symbolisierten die starke, erfolgreiche, einzigartige, wunderschöne Frau, die Männer herumkommandierte und ihnen die Hölle heißmachte, wenn sie nicht spurten. Diese drei Frauen standen für die unabhängige und doch anbetungswürdige bis aggressive Selfmade-Frau. Die verruchte Künstlerin, die Liebhaberin, die wilde Furie, die sich nichts sagen ließ, gefühlvoll war und doch wusste, was sie wollte. Im Grunde genommen wohnte in Nathalie seit ihrer Heirat eine uralte, weggeschlossene Aggressivität, die nur darauf wartete, erneut zum Ausbruch zu kommen, um sich endlich das für sie vorgesehene Leben zurückzuerobern. Nathalie stand kurz davor, loszupreschen und sich das zu nehmen, was ihr zustand. Das spürte sie ganz deutlich. Doch noch hatte sie sich im Griff.
Sie war multitasking. Nathalie behielt alles im Auge. Sie war immer für andere da. Wer aber war für sie da? Seit heute Vormittag war ihr Vater nicht zu erreichen, und Ivy reagierte auch nicht mehr. Und um sich nicht weiter fragen zu müssen, ob überhaupt gerade jemand an sie dachte, würde Nathalie genau jetzt das Handy ausschalten. Sollte Peer wider Erwarten doch irgendwann, wenn er sich ausreichend mit den Kollegen über Belanglosigkeiten ausgetauscht hatte, anrufen, würde er nur auf die Mailbox sprechen können. Mit jeder Faser seines Körpers sollte er spüren, wie beschissen es sich anfühlte, vollkommen abgeschnitten zu sein unter all den Menschen, die selbstbestimmt ihr Leben führten. Es war erniedrigend, ja! Das war es! Erniedrigend! Vollkommen isoliert, bedingungslos auf sich gestellt zu sein, weil niemand da war, der einem zur Seite stand, wenn man ins Wanken geriet. Nathalie hatte ja nicht einmal eine Freundin. Abends war sie zu müde, sich noch auf ein Glas Wein zu verabreden, um sich das lamentierende Geschwafel anderer Mütter anzuhören, die nichts außer ihren Hausfrauensorgen im Kopf hatten. Gott, das war so erbärmlich. So langweilig. So eine Zeitverschwendung.
Wie hielt Ivy eigentlich ihre Fehlplanung des Lebens aus? Sie hatte ja nicht einmal ein Kind, an dem sie sich festklammern konnte. Bald würde ihre jüngere Schwester in das Alter kommen, in dem es schon an absolute Leichtsinnigkeit grenzte, überhaupt noch schwanger zu werden. Sowieso lag die Chance einer Befruchtung pro Zyklus mit Mitte dreißig nur noch bei zehn Prozent. Eigentlich hätte Nathalie auch gerne noch ein Kind bekommen, nun wurde sie schon achtunddreißig. Das Für und Wider für eine solche Risikoschwangerschaft hatte sie neulich im Internet recherchiert. In jedem Fall würde sie eine Fruchtwasserpunktion durchführen lassen, um mögliche genetische Auffälligkeiten sofort festzustellen. Endlich ging ihr Vater ans Telefon. Sie ließ die Begrüßung gleich weg.
»Wo warst du denn den ganzen Tag?«
»Drüben, bei Heidi.«
»Was machst du denn drüben bei Heidi?« Nathalie steckte sich den Kopfhörer ins Ohr, wobei der Wagen kurz ins Schlingern geriet und ein schwarzer Audi hupend an ihr vorbeizog.
»Ihre Enkelkinder sind zu Besuch. Sie hat mich gefragt, ob ich rüberkommen will, um ein bisschen mit den beiden Kleinen zu spielen.«
»Du hast doch selbst ein Enkelkind. Reicht das nicht? Brauchst du noch mehr davon? Dann frag Ivy! Die ist jetzt mal dran.«
»Wir haben doch nur draußen im Garten Kricket gespielt, und Heidi hat uns bekocht«, sagte Walter mit sanfter Stimme. »Dann hab ich den beiden Kleinen noch etwas vorgelesen, und danach haben wir eine Burg aus Lego gebaut.« Am anderen Ende der Leitung ertönte der Begrüßungsjingle, der immer ertönte, wenn ihr Vater den alten Siemens-Computer hochfuhr.
Nathalie überholte den schwarzen Audi und zeigte dem erstaunten Fahrer einen Vogel. »Papa! Es ist halb sechs! Du warst den ganzen Tag drüben
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