Leichte Turbulenzen - Roman
mit ihrer genialen Merchandising-Idee, stieg sie in den modrig riechenden Keller hinunter, um sich einen ersten Eindruck vom Zustand ihrer Bücherkisten zu verschaffen.
Nachdem Nathalie in dem engen Backsteinverschlag vier von zehn staubigen Kistendeckeln geöffnet und mit den Fingerspitzen andächtig über die Buchdeckel gefahren war, sah sie im flackernden Licht der nackten Glühbirne ihr neues Dasein als Kinderbuch-Erfolgsautorin ganz deutlich vor sich. Am Nachmittag würde sie sich Peers Arbeitszimmer kapern und es nach ihren Bedürfnissen einrichten. Seine Rudermaschine musste raus – oder aber sie fing an, daran zu trainieren. Während der Schulzeit war ihr Körper durch das Jazzdancetraining geschmeidig und durchtrainiert gewesen. An diese alten Leistungen musste sie wieder anknüpfen, um zu sich zu kommen. Erst jetzt wurde Nathalie in Gänze bewusst, wie sehr sie sich für dieses bürgerliche Leben aufgegeben hatte, das einen doch nie für das Nicht-aus-der-Reihe-Tanzen belohnte. Nur um gesellschaftlich anerkannt zu werden, hatte sie aus sich eine fürsorgliche und gut einschätzbare Ehefrau gemacht. Nicht einmal im Himmel würde sie für diese Selbstbeschneidung eine Medaille bekommen. Nathalie würde die Arbeitszimmerwände mit einem Regalsystem bis unter die Decke zustellen. Jeden Morgen würde sie, sobald Peer mit Lucy zur Kita aufgebrochen war, am Computer ihre Kinderbücher verfassen. Zwischendrin würde sie sich noch um die Wäsche kümmern und an der Rudermaschine trainieren. Sie würde all das ohne klagen und jammern hinbekommen. So wie ihre Mutter. Nur ohne aufzugeben, sie war eine Einzelkämpferin.
Sie war multitaskingfähig.
Plötzlich fühlte sich das Leben ganz leicht an. Leicht und voller unbegrenzter Möglichkeiten. Nathalie stieg auf ihr Rad und fuhr leise singend durch die laue Frühlingsluft, am in der Frühlingssonne ausgestorben daliegenden Spielplatz vorbei, der in wenigen Stunden aus allen Nähten platzen würde. Diese täglichen trägen Müttertreffen, während derer ausschließlich Sorgen ausgetauscht wurden, würden in Zukunft ohne sie stattfinden. Sie hatte Besseres vor. Es duftete nach den auf dem Asphalt zu gelbem Staub gemahlenen Lindenblüten und nach einer wundervollen Verheißung. Der Verheißung, dass nun endlich ihre Erfolgsgeschichte begann. Und niemand, wirklich niemand, würde sie an diesem kometenhaften Aufstieg hindern.
Praktischerweise kränkelte Lucy am Nachmittag. Vermutlich handelte es sich um eine harmlose Grippe, sodass sie nicht einmal ihre funkelnden Prinzessin-Lillifee-Perlen aufziehen wollte. Vor sich hin dämmernd lag sie in ihrem Kinderbett zwischen dem weißen Prinzessin-Lillifee-Einhorn und dem riesigen Winnie-The-Poo-Plüschferkel, das ihr Ivy zum vorletzten Weihnachten im Disney-Store gekauft hatte. Gerade hatte Nathalie ihrer Tochter zum fünften Mal das Hörbuch Der kleine Prinz angeschaltet und war eilig aus dem Zimmer geflüchtet, bevor Lucy noch die berechtigte Bitte an sie hätte richten können, bei ihr zu bleiben. Ab und an brachte Nathalie ihr ein Glas Früchtetee zu trinken. Das musste heute mal an Fürsorge reichen. Später, gegen siebzehn Uhr, wollte Nathalie ihrer geschwächten Tochter zum Ausgleich die ersten Sätze aus diversen Kinderbuchklassikern vorlesen, die sie im Keller aus den Bücherkisten gefischt hatte, um herauszufinden, auf welchen ersten Satz Lucy am eindeutigsten reagierte. Zu den ausgewählten Büchern zählten: Die kleine Raupe Nimmersatt, Gullivers Reisen, Wo die wilden Kerle wohnen, Tom Sawyer, Emma Ententropf, Pippi Langstrumpf, Momo, Die Unendliche Geschichte, Ronja Räubertochter und Herr der Ringe. Lucy sollte einfach intuitiv reagieren. Doch bereits nach drei Minuten fiel sie in einen unruhigen, fiebergetränkten Schlaf. Die Temperatur wurde von Nathalie nicht wie sonst liebevoll mit kalten Wadenwickeln, sondern mit fiebersenkendem Saft zurückgedrängt. Statt sich anschließend neben ihre winzige Tochter ins Bett zu legen, um ihr kummervoll übers hellblonde Haar zu streichen, erhob sich Nathalie, sobald Lucy wieder eingeschlafen war, von der Bettkante, um in den vorderen Teil der Wohnung zurückzukehren.
Sie räumte Peers alte Steueraktenordner in Umzugskartons, die sie den neu eingezogenen Nachbarn in der dritten Etage ungefragt vom Treppenabsatz entwendet hatte, und stapelte sie in der Garderobe übereinander. Anschließend beseitigte sie noch Peers CD -Rohlinge, Fotoalben und Fotokartons aus den Jahren, in
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