Leichte Turbulenzen - Roman
denen sie sich noch nicht kannten, in den Hausflur. All das würde im Austausch mit ihren Bücherkisten in den Keller wandern. Während einer kurzen Verschnaufpause hob Nathalie, auf der obersten Treppenstufe sitzend, von einem dieser Schuhkartons mehr oder weniger interessiert den Deckel herunter und nahm dann doch relativ begierig einen Stapel Fotos heraus. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Was bitte hatten diese Bilder zu bedeuten? Drinnen im ausgeräumten Arbeitszimmer klingelte das Telefon in der Ladestation. Ihre Hände wurden schon wieder feucht, sodass sich kleine Schweißperlen auf ihrem Handrücken bildeten. Bestimmt war es Peer, der nach dem missglückten Telefonat am Vormittag bemüht war, sich verstärkt als Hausmann zu engagieren und zu erfragen, ob er noch etwas fürs Abendessen einkaufen sollte. Nathalie konnte jetzt unmöglich mit ihm sprechen. Sie würde ihn auf der Stelle mit zittriger Stimme fragen: »Was–geht–hier–vor?«
Diese Fotos dokumentierten eine ganz andere Geschichte, als er ihr über sein Vorleben wiedergegeben hatte. Sie nahm das erste Bild vom Stapel, legte es weg und starrte das darauffolgende aus verhangenen Augen an. Von sämtlichen Schnappschüssen grinste ihr Peers Exgeliebte Jenny entgegen. Nathalie schluckte trocken. In ihrer Kehle brannte es. Auf neunzig Prozent der Bilder hockte diese dunkelhaarige junge Frau im Bikini auf dem Schoß ihres Mannes und schlang ihren heftig gebräunten Arm um seinen Hals. In der freien Hand hielt sie eine Kokosnuss mit pinkfarbenem Strohhalm. Im Hintergrund erstrahlte die unverwechselbare, sattgrüne Kulisse einer zugewucherten thailändischen Insel. Es tat weh. Der Schmerz der Erkenntnis schob sich langsam und stechend von ihren Füßen hinauf bis in die Stirnlappen. Peer trug knappe, rote Badehosen und lächelte leicht verschwitzt in Jennys Richtung. Niemals hatte er Nathalie davon erzählt, dass er mit dieser Frau, von der er behauptete, dass er sie so gut wie gar nicht gekannt hatte, im Paradies gewesen und auf einem Elefanten geritten war. Oder dass er mit ihr in quietschbunte Saris gehüllt in Hängematten zwischen zwei Palmen vor einer Bambushütte unterm Vollmond übernachtet hatte.
Nathalie schmiss den Stapel zurück in den Karton. Sie stand kurz vor einem Rappel. Um nicht laut zu schreien, presste sie ihre Hand mit dem Ehering auf den Mund. Wie eine Witwe kam sie sich vor, die gerade in diesem Augenblick vom tragischen Unfalltod ihres Mannes erfuhr. Ohne Erbarmen für sich selbst zog sie sich den festsitzenden Goldring vom Finger, wobei sie sich die dünne Haut über dem Gelenk einklemmte, wild entschlossen, ihn ein für alle Mal loszuwerden. Beziehungen waren offenbar, egal, wie sehr man sich bemühte, verlässlich mit Schmerzen verbunden. Sie waren einfach nicht unter Kontrolle zu bringen. Aus dem Kinderzimmer ertönte Lucys dünnes Stimmchen. »Mama, aua!«
Nein! Nathalie konnte jetzt nicht für ihr Würmchen da sein. Sie riss das Treppenhausfenster auf und schleuderte den Ring, in den Peer und Nathalie in ewiger Liebe in Schnörkelschrift eingraviert war, hinaus in den Hinterhof. Richtung Müllcontainer. Dorthin, wo sich schwarze Müllbeutel und durchweichte Pappkartons stapelten. Dorthin, wo die Fliegen im säuerlichen Gestank ausgelaufener Milchpackungen surrten und faulige Äpfel mit weißplüschigem Schimmel überzogen einen klebrigen Saftfleck auf dem Betonboden fabriziert hatten.
Das tat gut. Dieser symbolische Akt der ultimativen Befreiung schaffte kurzfristige Erleichterung.
Jetzt musste sie herausfinden, was hier lief. Offenbar hatte sie ihre Ehe auf einem Lügengebilde begründet. Wie ihre Mutter. Lucy klagte herzzerreißend. »Mama, aua!«
Heute war Nathalie ausnahmsweise einmal nicht sofort für ihre Tochter zu sprechen. Heute brachte Nathalie ihr Leben in Ordnung. Heute deckte sie alle Unwahrheiten auf. Heute machte sie reinen Tisch. Heute fing sie bei null an. Sie war keine verheiratete Frau mehr. Ab jetzt war sie nur noch Einzelkämpferin. Im Grunde genommen war sie das schon immer gewesen. Im Leichtathletikverein. In der Jazzdance-AG. Im Studium. Nun war sie wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte. Der Kreis schloss sich. Tatkräftig, als würde sie bei Hochwasser einen gebrochenen Damm mit Sandsäcken sichern, warf sie alle Fotokisten aus dem Hausflur zurück ins Arbeitszimmer. Dort besah sie sich, im Schneidersitz auf dem Teppich hockend, gründlich und analytisch jedes verdammte, entlarvende Bild, das sich
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