Leichte Turbulenzen - Roman
ich lieber Shaun das Schaf auf DVD angucken?«
Daraufhin hatte Nathalie die letzten Tage damit zugebracht, genauestens den Buchmarkt abzuscannen und auszuwerten, um die Geheimformel für einen sicheren Bestseller zu destillieren. Sie hatte sich durch die im Internet archivierten Kinderbuch-Bestsellerlisten der vergangenen drei Jahrzehnte gearbeitet und versucht, einen darin enthaltenen Algorithmus zu entdecken, mit dessen Hilfe sie die Welt mit einem neuen Kinderbuchklassiker beschenken konnte. Auf Peers Druckerpapier hatte sie Hochrechnungen angestellt und Listen mit relevanten gesellschaftspolitischen und sozialpädagogischen Themen angefertigt.
Mit einem roten Faserschreiber, den ihr Peer aus dem Büro im ganzen Bündel mitgebracht hatte, notierte sie jetzt auf einen weißen Papierbogen:
Zwei-Helden-Kombi .
Auf einen weiteren Bogen:
Einzelheld .
Es war unglaublich, wie viele Gesetze es beim Schreiben eines Kinderbuches zu beachten gab. Sie würde definitiv erst mit dem schöpferischen Akt beginnen, wenn klar war, dass sich der Aufwand auch rentieren würde. Das Konzept musste stimmen. Scheitern kam für sie als Option nicht in Frage. Um sich zu motivieren, vergegenwärtigte sie sich die Kühlschranktür ihres Vaters, auf der beim letzten Besuch plötzlich ein älteres Foto von Ivy neben der Wachsfigur des verschwitzten Fußballers Wayne Rooney im rot glänzenden Manchester-United-Trikot unter einem Magneten geklemmt hatte. Damals war Walter zur großen Enthüllungszeremonie bei Madame Tussauds nach London gereist und hatte anschließend einen Haufen Zeitungsausschnitte aus der Sun und dem Daily Mirror über »Ivys neuestes Werk!« an sämtliche Verwandte in Buenos Aires verschickt. Ständig bekam Ivy Anerkennung für ihre Arbeit. Nie aber hatte ihr Vater Nathalies gesellschaftspolitische Artikel herumgemailt, mit der Begründung, sie seien für die Verwandten im Ausland nicht zu verstehen. Noch klemmten sie an der Kühlschranktür unter einem Magneten. Wahrscheinlich empfand er ihre Essays einfach nur als komplett irrelevant.
Nathalie blickte auf ihre Armbanduhr. In einer Viertelstunde musste sie los. Wie sollte sie unter diesem Zeitdruck überhaupt je etwas von Bedeutung hinbekommen? Kein Wunder, dass Ivy Erfolg hatte. Sie hatte ja nichts anderes als sich selbst. Streng genommen fehlten Nathalie überhaupt die entsprechenden Räumlichkeiten für ihr Geistesleben. Peer belagerte wie selbstverständlich das Arbeitszimmer, obwohl er von morgens bis abends im Büro saß. Sie rief ihn jetzt doch noch mal an.
»Nathalie?« Ihr Mann klang ein klein wenig unwillig.
Vorsorglich verlieh sie ihrer Stimme einen offiziellen Ton. »Tut mir leid, dass ich dich noch mal stören muss, aber mir ist gerade aufgefallen, dass ich dich hier bei uns zu Hause noch nie am Schreibtisch habe sitzen sehen«, sagte Natalie. »Das ist kein Vorwurf. Trotzdem bist du ja nicht gerade der geborene Geistesmensch. Du bist Sportler. Im Sommer spielst du mit deinen Kollegen Fußball, du fährst Rad und schlägst dich beim Karate …«
»Worauf willst du hinaus?« Peer atmete ungeduldig in den Hörer.
Davon wollte sich Nathalie jetzt nicht einschüchtern lassen. Ganz im Gegenteil. Seine Unwilligkeit reizte sie regelrecht. Was war schon diese kurze Störung im Gegensatz zu ihrem Arbeitsalltag, der vollkommen von Hausfrauen- und Mutterpflichten zerstückelt wurde. »Seit Lucys Geburt bin ich kaum noch zum Lesen gekommen, mal abgesehen von dem Buch über die Parabel vom Glück Der Mönch, der seinen Ferrari verkaufte . Und das halbe Duzend Erziehungsratgeber.«
Nathalie brauchte Belletristik um sich herum.
Ihr Mann seufzte. »Dann lies doch etwas. Du bist doch den ganzen Vormittag allein zu Hause.«
Das tat weh. Oh. Das tat richtig weh.
Nathalie sprang vom Stuhl auf, wobei der Papierkorb unterm Tisch umkippte. Sie rief: »Nur zu deiner Erinnerung: All meine Bücher lagern in Umzugskisten im Keller. Bei Licht betrachtet habe ich, dessen werde ich mir schlagartig bewusst, mein gesamtes Vorleben negiert, um mit dir auf Augenhöhe zusammen sein zu können. Tatsächlich habe ich meine intellektuellen Ansprüche auf ein Minimum reduziert, um nicht ständig spüren zu müssen, dass ich wesentlich gebildeter bin als du. Ich liebe dich. Aber: zu welchem Preis?«
Am anderen Ende der Leitung war es still.
»Peer?«, fragte Nathalie. »Bist du noch da?«
»Jep.«
Nathalie holte tief Luft. Sie wollte sich nicht streiten. »Eigentlich wollte ich nur
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