Leichte Turbulenzen - Roman
Blutbuche vorbei, deren dunkellila Blätter Richtung Rasen segelten. Ihr Blick war hinüber zu Heidis Küchenfenster gezuckt, hinter dem es dunkel war. Hundertprozentig war ihr Vater gemeinsam mit Lucy, Heidi und den beiden anderen Enkelkindern draußen unterwegs. Es war erbärmlich, wie er sich als Patchworkopa aufspielte. Sobald Nathalie sich angezogen hatte, würde sie auf ihrem alten Rennrad hinter der Truppe herrasen und sie zersprengen. Niemals würde es Heidi auf den computergesteuerten Stammbaum ihrer Familie schaffen. Egal, wie sehr sie sich ins Zeug legte.
Drüben, Nathalie wusste nicht, wohin mit sich, drüben im Gemüsegarten stand plötzlich Heidis sauertöpfische Tochter Tamara in einem grauen Strickmantel mit rot geschminkten Lippen. Mit Hilfe dieses albernen Markenzeichens hatte sie schon während des Abiturs Aufmerksamkeit geheischt. Die dunklen, langen Locken legten sich reizvoll um ihr gebräuntes, kirschförmiges Gesicht. Mit einem Kaffeebecher, den sie mit beiden Händen umklammerte, starrte sie Nathalie direkt über die welke Hecke hinweg an. Hier musste doch irgendwo das Luftgewehr ihres Vaters stehen. Nathalie duckte sich weg und krabbelte auf allen vieren über die Dielen ins Wohnzimmer. Mit der Vogelscheuche wollte sie definitiv nicht ins Gespräch über Mutterschaft und Hausfrauentätigkeiten kommen. Ebenso wenig wollte Nathalie von ihr gefragt werden, ob sie voll berufstätig sei. Tamara machte bestimmt als Anwältin Karriere und hatte ein Kindermädchen zu Hause. Sie würde sich duschen, anziehen, Lucy ins Auto verfrachten und zurück nach Berlin flüchten. Kam man denn nirgendwo zur Ruhe? Unterhalb des Fenstersimses hockend, spähte Nathalie dorthin, wo Tamara eben noch in den Rabatten gestanden hatte. Jetzt war sie weg. Nathalies Blick jagte hinüber zum Schuppen, zwischen den Apfelbäumen hindurch, weiter zum Karpfenteich, dessen Ufer dicht mit gelblichem, vertrocknetem Schilf bewachsen war. Vernünftigerweise hatte sich Tamara zurückgezogen. Erleichtert richtete sich Nathalie wieder auf und aß in der Küche das klein geschnittene Marmeladenbrot auf, das von Lucys Frühstück übrig geblieben war.
»Natti! Hallo!«
Es klopfte von außen ans Butzenfenster. Nathalie würgte das zerkaute Marmeladenbrot hinunter. Dahinter stand Tamara. Mit der Hand machte sie eine rührende Bewegung, wobei sie die Stirn in Falten zog und heftig nickte. »Lässt du mich rein?«
Offenbar hatte sie vor, ums Haus und in die Küche zu kommen. Nathalie tat so, als sei sie taub. Seelenruhig goss sie mit der kleinen Gießkanne Wasser in die Kräutertöpfe auf dem Fensterbrett. Tamara ließ ihre Hand sinken und verschwand aus Nathalies Sichtfeld. Kurz darauf klingelte es vorne an der Haustür. Alles in Nathalie sträubte sich dagegen, ihre Erzrivalin aus der Schulzeit hereinzulassen. Was wollte sie von ihr? Alte Kamellen aufwärmen? Doch der Drang zu erfahren, was sie wollte, war dummerweise stärker. Als hätte sie bereits auf dem Weg durch die Diele geahnt, was Tamara ihr zehn Minuten später neben den Himbeersträuchern, um Fassung ringend, eröffnen würde, waren ihre Hände vor Anspannung so feucht geworden, dass sie sie in den Bademanteltaschen ihres Vaters vergraben hatte. Und nun hatte Nathalie alle Mühe, Tamaras Worte wieder aus dem Kopf zu bekommen. Doch mit dem Schreiben des Kinderbuches würde sie es schaffen, sich abzulenken und den Augenblick der grausigen Offenbarung zu vergessen, bis sie bereit war, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen und die damit einhergehenden Umwälzungen anzunehmen.
Draußen klarte der Himmel über den mit Folie abgedeckten Terrassenmöbeln auf. Die erste Frühlingssonne brach durch die Wolken und fiel auf Nathalie, die sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich und entschieden die Luft ausblies. Ja! Vielleicht würde sie sogar eine erfolgreiche Merchandising-Figur erfinden, einen knuddeligen Plüschtroll mit einer kleinen blonden Elfe als Freundin. Sie stellte den Papierkorb zurück ins verwaiste Arbeitszimmer. Und mit einem Mal erschien es ihr ganz und gar logisch: Es wurde wieder Zeit für plüschige, rotnasige, freundlich-knorzelige Trolle!
Anstatt eilig in Richtung Kita aufzubrechen, erlaubte sie sich ausnahmsweise eine Viertelstunde Verspätung. Heute riss sie einmal nicht wie sonst ihr Rad aus dem Ständer und raste damit, ganz wie es normalerweise ihre Art war, kopflos über drei rote Ampeln, nur um pünktlich ihren süßen Wurm abzuholen. Zufrieden
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