Leichte Turbulenzen - Roman
mit dir besprechen, ob du etwas dagegen hast, wenn ich mich etwas im Arbeitszimmer einrichte, da du es ja tagsüber sowieso nicht benutzt.«
»Sicher, mach das.« Im Hintergrund piepste Peers Handy. Offenbar war eine SMS eingegangen. Beinahe hätte Nathalie gefragt, von wem ihr Mann da gerade eine Nachricht erhalten hatte. Beinahe. Aber sie presste fest die Lippen aufeinander und nuschelte: »Ich muss jetzt mal los, Lucy von der Kita abholen.«
Weil ihr Mann nichts mehr antwortete, legte sie schließlich auf. Gerade fühlte es sich an, als würde ihr Kopf mit Beton ausgegossen werden. Als sei sie dem Gutdünken ihres Mannes und dem Rest der Welt vollkommen ausgeliefert.
Nathalie hätte ihren heutigen Arbeitstag so gerne mit einer kleinen Sensation abgeschlossen. Mit ihrem ersten Satz fürs Kinderbuch. Dieser Triumph hätte ihr wieder auf die Beine geholfen. Wie fanden eigentlich all ihre Schriftstellerkollegen den ersten, vielversprechenden Satz? Wenn der Erfolg erst einmal da war, würde sie wieder festen Boden unter den Füßen haben, wieder sicher stehen und sich keine Gedanken mehr über eingehende SMS machen. Dann hätte sie wieder ein eigenes Leben. Momentan fühlte es sich fast so an, als lebte sie von den Resten, die Peer ihr übrig ließ. Am Nachmittag würde Nathalie gemeinsam mit Lucy konzentriert die Illustrationen ihrer Mutter studieren. Vielleicht würde ihrer Tochter intuitiv etwas Kluges dazu einfallen. Etwas, das Nathalie auf eine geniale Idee brachte.
Ivy hätte längst eine Idee gehabt.
Früher hätte Nathalie ihre kleine Schwester regelrecht dafür lynchen können, wie selbstverständlich, ganz ohne Anstrengung, ihr lustige Dinge eingefallen waren. Vollkommen angstfrei. Nicht ein einziges Mal waren Ivy auch nur minimale Skrupel gekommen, ob man sie womöglich für dumm halten konnte. »Komm, Natti!«, hörte sie plötzlich ihre Zwergenstimme. »Wir suchen im hohlen Baum den Waldgeist.«
Nathalie krabbelte unter den Esstisch und sammelte die Papierknäuel auf, die aus dem Mülleimer gekippt waren. Erstgeborene wie sie hatten es in dieser Gesellschaft grundsätzlich schwieriger. Ständig wurden sie von ihren Eltern überfordert oder in die Pflicht genommen, wodurch sie pausenlos Gefahr liefen, etwas falsch zu machen und dafür gescholten zu werden. Zweitgeborene hingegen konnten unbehelligt ihrem Spiel und ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Wann immer im Haus Hilfe benötigt wurde, mussten die Erstgeborenen springen. Erst neulich hatte Nathalie in einem der Erziehungsratgeber gelesen, die sich auf ihrem Nachtschränkchen, im Wohnzimmer und auf der Waschmaschine stapelten, dass man als Eltern dringend auf solch traumatisierende Ungerechtigkeiten zwischen den Geschwistern achten sollte. Psychische Störungen wie Depression und Versagensängste im Erwachsenenalter waren die Folge. Ebenso Migräne oder Neurodermitis. Überhaupt war Nathalie durch das Lesen all der Erziehungsratgeber erst aufgefallen, wie viel in ihrer Kindheit eigentlich schiefgelaufen war.
Ivy wusste gar nicht, wie gut es ihr ging.
Und Nathalie wollte von ihr nie wieder hören, dass sie eine Idee hatte. »Natti, wollen wir uns einen Kaugummiautomaten bauen?«
Gerade verspürte sie wieder diesen alten, aufquellenden Neid auf ihre kleine Schwester. Am liebsten hätte sie Ivy angerufen, nur um ihr ausnahmsweise mal den Boden unter den Füßen wegzureißen. »Ich weiß etwas, was du nicht weißt!«
Aber so grausam war sie nicht. Das, was ihr Tamara neulich im Garten ihres Vaters mit zittriger Stimme offenbart hatte, würde sie für sich behalten. Genau wie ihre Verdachtsmomente gegenüber Peer. Sie würde all diese scheußlichen Entdeckungen unter Verschluss halten, wie die verplombten Gorleben-Fässer mit atomarem Müll. Bis sie undicht wurden und die Erde mit ihrem gesammelten Grauen auslöschten.
Selbst schuld, wenn sich niemand um die Wahrheit scherte.
Damals, vor vier Wochen, war Nathalie am Morgen im Bademantel ihres Vaters vollkommen gerädert in die verlassene Küche heruntergekommen, um mit ihrem Vater und Lucy zu frühstücken. Doch neben dem Brotschneidebrett hatte lediglich ein aufgerissener Telekom-Briefumschlag gelegen, versehen mit einer Notiz: »Guten Morgen, mein Kind. Wir sind runter zum Wald, spazieren. Papa und Lucy.« Darunter: »rot. Fotoalb.?«
In dem quecksilbrigen Gefühl, von der restlichen Zivilisation abgeschnitten zu sein, hatte Natalie mit hängenden Lidern aus dem Küchenfenster gestiert, an der
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