Leichte Turbulenzen - Roman
Giebelzimmer, wie sie ihrer Mutter beim Zeichnen zusahen: »Wen malst du heute?« Sie am Strickjackenzipfel ihrer Mutter hängend. Ständig war sie ihr im Haus die Treppen hinauf- und hinuntergefolgt und quer durch den Obstgarten. Sogar beim Unkrautjäten war sie immer dicht bei ihr gewesen. Sie und Natti in Findhorn beim Morgenkreis auf der dunstigen Wiese, mit dreißig langhaarigen Erwachsenen die Fülle und Schönheit der Natur begrüßend. Als Zwölfjährige lief sie barfuß aus dem Wald heraus, auf das seichte Seeufer zu. Ihr Atem stach in der Brust. Sie hörte ihr eigenes Keuchen. Mit hängenden Armen stand sie im hellblauen Badeanzug vor ihrer angeschwemmten Mutter im weißen Sommerkleid, das sich feucht um ihren leblosen Körper schlang. Ihre erstaunten Augen starrten sie direkt an. Nie hatte sie Sommerkleider getragen, immer nur Jeans. Das wurde Ivy erst jetzt bewusst. Der weiße, durchbrochene Saum schwappte im seichten Wasser. Nathalie war im Bikini und mit bunter Badetasche hinter ihr hergekommen. »Was is’n da?«
Ivy, wie sie ein Jahr später auf dem Fenstersims des Giebelfensters balancierend versuchte, die grauen Schwalbennester mit einem dicken Ast unterm Giebel wegzuschlagen, während Nathalie auf dem Sitz eines blauen Motorrollers, die Arme um einen blonden Jungen mit Jeansjacke geschlungen, vom Hof knatterte.
Ivy wollte rufen: »Willem, halt mich.« Ihr wildes Herz schlug bis zum Hals. Vincent schien zu schlucken, sein Kehlkopf bewegte sich leicht nach oben, darüber seine feinen rötlichen Bartstoppeln, seine Lippen öffneten sich. Dahinter bewegte sich die Zunge. »Ich weiß, wie du dich fühlst.«
Willem warf seinen Pinsel und die Palette aufs Rollwägelchen und riss sich die Ohrenstöpsel aus den Ohren. »Ist alles in Ordnung, Chuck?«
Ivy fuhr sich über die Stirn. Ihre Lippen zitterten. »Ich weiß es nicht.«
Nach ein paar Schritten stand Willem neben ihr. »Bist du nicht zufrieden?«
Langsam wandte Ivy ihm das Gesicht zu, es war mit roten Flecken übersät, die Augen erschrocken geweitet, ihre Nasenflügel bebten. »Ich …«
»Geht’s dir nicht gut?« Willem fasste sie fest an beiden Oberarmen und schüttelte sie leicht. Ihr fiebriger Blick streifte durch die helle Werkstatt. Da stand Vincent. Dort das Rollwägelchen. Weiter hinten die Farbtöpfchen im Regal. Willem. Im Hintergrund Sandra Bullock. Durch die ungeputzten Scheiben brach das glühende Rot der Aprilsonne und tauchte Ivys Welt in leuchtendes Orange. All die über Jahrzehnte niedergekämpften Bilder ließ sie gehen. Und mit ihnen ihre Mutter. Ivy wusste nicht, woran es lag. Aber etwas in ihr fühlte, dass sie sich wiedergefunden hatte. Ihr Funke glimmte auf. Lieblich flackerte er in ihrem Innersten und ließ sie gleichzeitig weinen und lächeln. Ivy schluchzte: »Willy, ich bin so glücklich.« Und ehe ihr Kollege wusste, wie ihm geschah, umarmte sie ihn, noch bevor sie Desmond Gayles Mail geöffnet hatte.
11.
Es war früher Samstagnachmittag. Ivy stand in ihrer hellgrauen Jogginghose mit den ausgebeulten Knien und dem leuchtend blauen Zahnpastafleck auf dem Oberschenkel am Fenster und blickte in den gelb gepflasterten Hof hinunter, in den es, obwohl die Sonne schien, träge nieselte. Erst vor ein paar Minuten hatte sie sich mühsam unter ihrer Bettdecke hervorgearbeitet und war widerwillig aufgestanden, nachdem sie seit Stunden ausdrücklich darum bemüht gewesen war, mit der Schlafbrille über den Augen immer weiterzuschlafen, um nicht über die verdrängte Verabredung mit Fortier nachdenken zu müssen, die ihr gegen fünf Uhr morgens – der Uhrzeit, in der statistisch die meisten Herzstillstände eintraten – wieder eingefallen war. Was nur sollte sie mit ihm reden? Gestern Abend hatte er sie an der Werkstatttür abgefangen und ihr beinahe flehend das Versprechen abgerungen, dass sie heute wirklich mit ihm essen würde. »Ivy! Dieses Mal entkommen Sie mir nicht! Lassen Sie mich bitte nicht wieder hängen. Im Kühlschrank steht seit Wochen der Chardonnay kalt.«
Was, wenn sie verspannt auf seinem neuen Sofa herumsaß und den quälenden Gedanken nicht loswurde, dass sie gerade verdammt viel Lebenszeit verpulverte? Mal abgesehen vom Flug nach Berlin und dem geplanten Telefonanruf bei Javis konnte sich Ivy momentan nichts Herausfordernderes vorstellen, als den Abend in Fortiers Wohnung zu verbringen und zu hoffen, dass er ihr keine Avancen machte. Sie wollte doch überhaupt nichts von ihm. Ein regelrechter
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