Leichte Turbulenzen - Roman
nachzudenken, die Augen eingesetzt hatte. Wenn sie etwas gut konnte, dann war es Glasaugen einsetzen. Sogar Willem bat sie hin und wieder darum, das für ihn zu übernehmen.
Er ließ den Pinsel sinken. Sein Blick wanderte hinüber zu Ivy, die direkt vor van Gogh stand und sich nicht rührte. Normalerweise arbeitete sie schnell und für seinen Geschmack fast ein wenig zu routiniert. Jetzt setzte sie sich ihre Hornbrille auf und bewegte die Lippen. Da Willem aber Stöpsel im Ohr hatte, konnte er nichts hören außer Sandra Bullock, die auf einem amerikanischen Sender Ellen DeGeneres von ihrem eigenbrötlerischen Leben mit ihren Hunden erzählte. Wie sie nachts mit neun von ihnen in einem Bett schlief und einer von ihnen nur drei Beine hatte, was Willem etwas sonderbar vorkam. Nun denn. So war sie eben.
Ivy griff nach Vincents linker Hand und drückte sie leicht. Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie kalt. Gleichzeitig hörte sie sich zu ihrer Überraschung flüstern. »Ist es schlimm, zu sterben, ohne jemals wirklich geliebt zu haben?«
Sobald sie ihm die Augen eingesetzt hatte, würde sie unten in der Galerie anrufen und ihn abholen lassen. Ohne ein Problem daraus zu machen. Und doch! Etwas, das spürte sie ganz deutlich, war anders als sonst. Normalerweise konnte sie die Figuren gut abtransportieren lassen. Augen rein und weg.
Zuerst wollte sie ihm das linke einsetzen. Doch es glitt ihr aus der Hand, fiel auf den Boden und sprang unter das Rollwägelchen. »Shit!« Ivy stieg vom Plastikbänkchen, ging hinunter auf die Knie und krabbelte Vincents Auge hinterher. Wenn das Ding auch nur eine kleine Scharte hatte, würde sie neue Glasaugen bestellen müssen und Vincent erst in den nächsten zwei Wochen fertigstellen können, um ihn für Desmond zu fotografieren.
»Alles in Ordnung?« Willem zog einen Kopfhörer aus dem Ohr und beobachtete Ivy perplex, die im weißen Kittel auf allen vieren um ihn herumkroch.
»Beweg dich einfach nur nicht. Oder hilf mir suchen!« Aber da hatte sie schon das smaragdgrüne Auge hinter Willems ausgetretenem Lederslipper entdeckt.
»Was machst du da?« Willem blickte zu ihr nach unten und vollzog eine Seitwärtsdrehung.
»Nicht bewegen!« Mit der einen Hand hielt Ivy seine stramme Wade fest, mit der anderen griff sie schnell nach dem Auge und erhob sich.
»Ich hab’s!« Lächelnd hielt sie es hoch und pustete sich eine blonde Haarsträhne aus dem geröteten Gesicht. Zu Ivys großer Erleichterung schien das kostbare Sinnesorgan unversehrt zu sein.
Willem stöpselte sich den Kopfhörer zurück ins Ohr und wendete sich wieder seiner Sandra zu. Ivy polierte das Auge erneut und untersuchte es unter der Lupe nach eventuellen Kratzspuren. Nachdem sie festgestellt hatte, dass es keinen Schaden genommen hatte, setzte sie sehr vorsichtig und konzentriert zuerst das linke, dann das rechte Auge ein und überzog beide ganz zart mit leicht glänzendem Tränenlack. Täuschend echt sahen sie aus. Vincents fragender Blick war direkt auf den Betrachter gerichtet, um ihn in seine rauschhafte Welt hineinzusaugen. Van Gogh war vollendet. Ivy machte einen Schritt nach hinten, um ihr Werk ausgiebig zu begutachten. Dabei konzentrierte sie sich zuerst ganz und gar auf seine schwarzen Pupillen.
»Oh, mein Gott.«
Ivy stolperte rückwärts über das Plastikbänkchen, stieß gegen das Rolltischchen und versuchte, irgendwie am fliehenden Wägelchen Halt zu finden. Ihre Finger griffen hilflos ins Leere. »Willem!« Statt eines Rufens kam nur ein heiseres Krächzen. Sie taumelte und machte einen Ausfallschritt. Endlich hatte sie ihr Gleichgewicht wieder. In ihren Ohren rauschte es, als würde das flaschengrüne Nordmeer in ihnen branden und seine Gischt an ihren schroffen Schieferfelsen meterhoch emporsprühen. Jetzt hing nur noch ein Badelatschen an ihrem Fuß, der andere lag verwaist neben dem Hocker. Ihr Blick ruckte zurück zu Vincents Gesicht und blieb an ihm haften.
Ivy sah alles in seinen Augen.
Ihr gesamtes Leben auf einen Punkt gebracht. Die Bilder schossen auf sie ein, immer schneller, immer verwirrender, von überall her. Auf jedem Bild war sie. Immer wieder sie. Als Siebenjährige, wie sie zum ersten Mal die pinkfarbene Polly-Pocket-Dose aufklappte und ungläubig die winzige, perfekte Miniaturwelt bestaunte. Ivy als kleines Mädchen in dunkelblauen Frotteeunterhosen neben der Brunnenmauer. Das sanfte Rauschen der blätterbepackten Erlen in der Mittagshitze. Sie und Natti auf der Pritsche im
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