Leichte Turbulenzen - Roman
Widerstand gegen die bevorstehende Pflicht drückte Ivy schwer aufs Gemüt. Seit fünf Uhr morgens überlegte sie, ob es nicht klüger wäre, ihn mit zugehaltener Nase anzurufen und zu behaupten, sie sei schon wieder an einer schweren Erkältung erkrankt. Genau wie in den Wochen davor. Oder würde diese erneute Absage schließlich doch irgendwelche beruflichen Auswirkungen nach sich ziehen? Sie würde Alice anrufen und sie nach ihrer psychologischen Einschätzung fragen.
Da das mit dem Einschlafen, durch das ununterbrochene Nachdenken über ihre eigentümliche Verpflichtung Fortier gegenüber, nicht geklappt hatte, war Ivy gegen sieben Uhr morgens gedanklich zu Desmonds eigentümlicher Antwortmail hinübergeschwenkt und hatte noch einmal alles drangesetzt, ihren rätselhaften Inhalt zu knacken, in der Hoffnung, darin einen brauchbaren Hinweis auf seine Gemütsverfassung ihr gegenüber zu finden. Mit Desmonds Offenbarung im Rücken wäre es ihr wesentlich leichter gefallen, sich entspannt in Fortiers Wohnzimmer zu setzen und mit ihm höflich Konversation zu betreiben, ausgestattet mit der schillernden Identität einer bereits vergebenen, souveränen, voll im Leben stehenden Frau, die von einem Amerikaner geliebt wurde. Doch anstatt der Bedeutung seiner Zeilen auf den Grund zu gehen, war Ivy mehr und mehr von einer fein verästelten Verwirrung eingesponnen worden, wie eine dem Tode geweihte Fliege im klebrigen Spinnennetz.
Liebe Ivy,
ich habe die Lichtverhältnisse geändert, um das Wesentliche zu finden. Gut, dass Sie an uns denken. Ich denke an Sie. Auf bald,
Ihr Desmond
Ivy war noch nie ein Fan kryptischer Schriftstücke gewesen. Es war ganz und gar unverständlich, warum Desmond ihr auf eine heitere Mail eine derart versponnene Antwort schickte. Wenn er ihr absolute Ablehnung hatte suggerieren wollen, war ihm das gelungen. Auf dieses studentische Geschwurbel würde Ivy nämlich nicht reagieren. Auch nicht mit einem Foto ihres fertigen van Gogh. Auf so etwas Unverständliches konnte man gar nicht antworten, ohne sich selbst die Gehirnwindungen zu verknoten. Ich habe die Lichtverhältnisse geändert. Ja und?
Ivy brauchte jemanden, der ihr bei der Entschlüsselung dieser verwirrenden Zeilen half, jemand, der hinter die Symbolik blicken konnte – es half ja nichts. Immerhin bestand die minimale Möglichkeit, dass Desmond einer weiteren Begegnung grundsätzlich nicht abgeneigt war, nur dazu neigte, dies auf seltsame Art und Weise kundzutun. Auch zu diesem Punkt würde sie Alice befragen. Solange es sich dabei nicht um ihre eigenen Belange handelte, verfügte sie über ein hohes Maß an Klarheit. Doch bevor Ivy sich weiter über Desmonds Antwort – die zugegebenermaßen relativ prompt erfolgt war – den Kopf zermartern konnte, war sie eingeschlafen und hatte einen seltsamen, wie wunderbaren Traum von Vincent van Gogh geträumt. Nackt hatte er sich langsam auf sie gelegt und sie wie selbstverständlich geliebt. Mit kraftvollen, hingebungsvollen Stößen hatte er Ivy an all das Schöne und Warme erinnert, das sie in all den Jahren ihres Alleinlebens in die Verbannung geschickt hatte. Während sie seine angespannte Brustmuskulatur mit der rötlichen Brustbehaarung und seine starken Oberarme ergeben betrachtet hatte, hatte sie gehofft, dass sie nie wieder aufwachen würde. Doch mitten im zärtlichsten Kuss hatte ihr Handy auf dem Nachtschränkchen vibriert. Notgedrungen hatte sie van Gogh von sich heruntergeschoben, die Schlafbrille auf die Stirn gezogen und das Handy ans Ohr gehalten. »Ja?«
»Ivy, hast du schon deinen Flug gebucht?« Ihre Schwester atmete gehetzt ins Telefon.
Ivy hatte sich aufgesetzt. »Wie geht es meinem Lucy-Wurm?«
»Schon viel besser.« Natalie schien beim Telefonieren eine belebte Verkehrsstraße entlangzulaufen.
»Das freut mich.« Ivy hatte sich vom Bett aufgerappelt und war hinüber ans Fenster getreten, aus dem sie nun in den Hinterhof hinaussah, in dem der Nieselregen die Oleanderkübel, die seit Einbruch des Winters in Blasenfolie gewickelt waren, mit einer kristallenen Haut überzogen hatte. Irgendjemand musste die armen Pflanzen auspacken. Normalerweise war das Franks Aufgabe gewesen, der in letzter Zeit so gut wie gar nicht mehr aufgetaucht war und sich offenbar auch für nichts mehr zuständig fühlte.
Nathalie japste. »Sie sieht im Krankenhaus den ganzen Tag fern. Um die Kinder ruhigzustellen, haben sie über jedem Bett eine Flimmerkiste aufgehängt. Ich bin mir gar nicht,
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