Leichte Turbulenzen - Roman
Er räusperte sich. »Sie meinte, du hättest dich in deinen Vincent van Gogh verguckt … Chuck?«
»Ich fasse es nicht.« Ivy verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich zurück ans Fenster, inzwischen glommen draußen die Laternen, und die Portobello Road flackerte im gleichmäßigen Regen. Unglaublich, dass Nathalie Ivys Überschwang nicht als das annehmen wollte, was er gewesen war, nämlich der nett gemeinte Versuch, ihre Schwester in diesen anstrengenden Tagen etwas aufzumuntern. Stattdessen nutzte sie diese Geschichte, um den ewig verliebten Willem auf sie zu hetzen. Merkte man als Neurotiker eigentlich, dass man neurotisch war? Oder war man darauf angewiesen, dass einen die engsten Vertrauten darauf hinwiesen? Nathalie sollte endlich aufhören zu versuchen, sie über die Distanz von 1000 Kilometern zu verkuppeln. Vielleicht sollte Ivy Peer wirklich anrufen, aber nur, um ihm zu sagen, dass Nathalie endlich aufhören sollte, sich in ihr Leben einzumischen. Willem legte seine dicken Hände auf die Oberschenkel und nickte nachdenklich, dabei sah er Ivy weiterhin interessiert an. »Okay, Chuck. Sind wir inzwischen an dem Punkt angekommen, an dem wir uns vor lauter Frustration, dass uns niemand anderes haben will, in Wachsfiguren verlieben?«
»Wir?«
Willem hob die Hände. »Mein Gott, du weißt genau, was ich meine. Ich hab mal irgendwo gelesen, dass man in kniffligen Situationen besser von ›wir‹ als von ›ich‹ oder ›du‹ spricht, um dem anderen das Gefühl zu geben, dass er nicht alleine dasteht. Damit er sich nicht entblößt fühlt, was weiß ich. Es war ein Versuch. Also, Chuck: Hast du dich in deine Vincent-van-Gogh-Figur verliebt? Aus Verzweiflung, weil sich dieser Desmond nicht bei dir gemeldet hat?«
»Nein.«
»Deine Schwester meinte aber, du hättest so etwas erwähnt und würdest ihn sogar sprechen hören. Und, mal ganz ehrlich, nach der Nummer gestern im Atelier hab ich auch so meine Bedenken, dass du dir da etwas vormachst. Ich will dir nicht zu nahe treten, aber womöglich hast du während deiner Arbeit an Vincent in ihn eine Art lebendige Persönlichkeit hineininterpretiert, die real gar nicht existiert.«
»Ich fasse es nicht.« Ivy schüttelte langsam den Kopf, diese Situation war so seltsam und so – demütigend. Sie starrte Willem an, in der Hoffnung, dass er sich plötzlich selber ungeheuer blöd vorkam. Aber dem war nicht so. Er lehnte sich entspannt in ihren Kissen zurück, erfreut darüber, endlich einen Grund zu haben, einmal wieder in Ivys vier Wänden zu weilen, schlug er die nackten Beine übereinander und meinte: »Was ist an dem eigentlich so toll?«
»An wem?«
»Na, an Vince!«
»Meinst du das ernst?« Ivy zog sich ihren Schreibtischstuhl heran, setzte sich darauf und legte ihre Füße hoch auf die Bettkante. Sie hatte Hunger. Sie musste sich überlegen, was sie am Abend zu Fortier anzog. In jedem Fall etwas, das gleich signalisierte, dass sie als potenzielle Kandidatin für partnerschaftliche Zwecke nicht in Frage kam.
»Ja!« Willem nickte. »Was ist an dem so toll, dass die ganze Welt nicht aufhören kann, sich mit diesem Typen zu beschäftigen?«
»Keine Ahnung. Vermutlich weil er die Schönheit der Dinge gesehen hat, die die wenigsten von uns überhaupt bemerken. Und weil er an dieser Gabe zerbrochen ist, oder an der Einsamkeit, die diese Gabe mit sich gebracht hat. Er war allein, weil niemand die Welt so prachtvoll wahrnehmen konnte wie er.«
Willem nickte vor sich hin, dann, mit einem Ruck, sah er Ivy fürsorglich an, als sei ihm wieder eingefallen, warum er hier war. Er verlieh seiner Stimme einen ernsten, männlichen Klang. »Hast du vor, dir was – ich sage mal –, dir was – äh – anzutun, Chuck?«
»Was soll denn das?!« Ivy stand unwillig von ihrem Stuhl auf und ging hinüber ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Grund genug hatte sie allemal, sich etwas anzutun. Eine neue Zahnbürste hätte sie auch gebrauchen können. Sie rief: »Kannst du übrigens mal damit aufhören, mich Chuck zu nennen? Wie dir vielleicht aufgefallen ist, trage ich seit unserem Abschluss keine Chucks mehr.«
»Soll ich dich Flipflop nennen?« Willem setzte sich wieder auf und stierte fragend in Richtung Badezimmer.
Durch die angelehnte Tür drang Ivys gedämpfte Stimme. Offenbar putzte sie sich gerade die Zähne. »Nenn mich einfach Ivy. Und zu deiner Information: nein. Ich hab nicht vor, mir etwas anzutun. Was soll denn das alles? Langweilt ihr
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