Leichte Turbulenzen - Roman
Bettkante setzen und es Seite für Seite in aller Versunkenheit durchblättern konnte, blinkte erneut das Handydisplay zwischen den Falten ihrer Bettdecke. Widerwillig erhob sie sich vom Boden und nahm es hoch. Willem. Ivy stöhnte auf. »Was ist los, Willy?«
»Das frag ich dich!« Eilig kettete er sein Rennrad an dem Laternenpfahl vor Woods Buchladen an. Er war ziemlich außer Atem, feine Schweißperlen glänzten auf seiner blassen, sommersprossigen Stirn, seine Lippen standen halb geöffnet, als er sich aufrichtete und im Nieselregen durch den nass glänzenden Hof lief. Beunruhigt blickte er zu Ivys Fenster im zweiten Stock hinauf. Dahinter war es dunkel. In seinen Lungen brannte es, als hätte er einen Haufen Stecknadeln verschluckt. Innerhalb von dreißig Minuten war er vom Victoria Park über mindestens drei rote Ampeln bis in die Portobello Road gerast.
Ivy setzte sich auf ihre Bettkante. »Was soll sein? Ich bin zu Hause.«
»Deine Schwester befürchtet, du leidest womöglich unter einer Art Burn-out.« Willem hetzte an den in Blasenfolie verpackten Kübelpflanzen vorbei, auf den mit Glyzinien zugewucherten Hauseingang zu und drückte mehrmals hintereinander auf die Klingel.
»Wieso soll es mir nicht gut gehen?« Es klingelte. »Willem, ich kann jetzt nicht telefonieren, hier ist jemand an der Tür. Ich vermute, es ist Alice, die heute noch vorbeikommen wollte.«
»Mach auf! Ich bin’s!«
»Wie? Du bist es?« Hörten diese überfallartigen Besuche denn niemals auf?
Willem keuchte atemlos. »Ich klingle gerade unten an deiner Tür, mach auf.«
Ivy drückte auf den Türöffner und wartete missmutig neben der offenen Wohnungstür, bis ihr Kollege schwer atmend die schmale, geschwungene Treppe heraufgekommen war. Er trug armeegrüne Anglerhosen mit Union-Jack-Hosenträgern und ein altes, ausgewaschenes, viel zu enges James-Dean-T-Shirt, das er in den Achtzigern als fanatischer Fan im Madame-Tussauds-Shop gekauft hatte.
Ivy trat zur Seite und ließ ihn herein. »Wie siehst du denn aus?«
»Ich war im Vicky-Park angeln.« Willem strich sich die hellroten Haare nach hinten und sah sich um. »Deine Schwester hat mich gebeten, sofort zu dir zu fahren, um zu sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist.«
»Natürlich ist alles in Ordnung. Was soll sein?«
»Keine Ahnung! Sie meint, du redest wirres Zeug.« Willems Gummihose quietschte bei jedem seiner Schritte. »Ich hab alles stehen und liegen lassen, meine Angel in die Büsche geworfen und bin losgehetzt. Schon mal in solchen Hosen dreißig Minuten durch den Verkehr gerast bei der brütenden Aprilsonne da draußen? Das ist der Killer.«
»Warum tust du das?«
Ivy drückte die Tür ins Schloss und knipste die Deckenlampe an. Von Aprilsonne war hier drinnen schlagartig nicht mehr viel zu spüren. Von einem Moment auf den anderen schien sich der Himmel radikal verdunkelt zu haben. Willem schnappte noch immer nach Luft und fuhr sich wieder und wieder mit dem Handballen über die verschwitzte Stirn. »Weil ich dich nicht erreicht habe. Guck mal auf dein Handy, ich hab ungefähr sechsundneunzigmal versucht, dich dranzukriegen. Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Deine Schwester vermutet, du könntest aus Frust Tabletten mit halluzinogener Wirkung oder so etwas genommen haben. Wie damals, als du mit Javis zusammen warst. Du weißt schon, dieses Zeug.«
»Willy, was soll das? Du hast es auch genommen. Das ist Jahre her! Damals haben wir noch studiert und wussten nicht, was wir taten.« Ivy war in die Küche verschwunden, um leise bis zehn zu zählen. Was war nur mit ihrer Schwester los? Ganz offenbar brauchte sie mal ein bisschen Fürsorge und Entlastung.
Willy kam ihr nach. »Nathalie befürchtet, dir fehlt der emotionale Ausgleich zur Arbeit und dass du deswegen mit der Realitätsverschiebung bei Madame Tussauds nicht mehr klarkommst.«
»Wegen welcher Realitätsverschiebung?«
Ihr Freund zuckte hilflos mit den Schultern. »Weiß ich doch auch nicht. Wahrscheinlich denkt sie, dass du verdrängst, dass das keine echten Menschen sind, die wir modellieren.«
»Bitte? Nathalie kam nicht damit zurecht, dass ihr etwas gelungen war.«
»Sie wollte wissen, ob ich in letzter Zeit irgendwelche Veränderungen an dir bemerkt habe.« Willem lächelte verlegen. »Den Zwischenfall von gestern hab ich jetzt erst mal für mich behalten.« Er sah fast ein bisschen stolz aus. »Ruf sie an und sag ihr, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt oder du dich aus
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