Leichtes Beben
dass sie, die in zwei Jahren fünfzig wurde und natürlich nicht mehr den makellosen Körper einer Dreißigjährigen besaß, noch immer eine erregende Wirkung auf einen jungen Mann ausübte. Außerdem waren ihr Männer wie Leander, die sich noch ganz auf ihre Physis verlassen konnten, grundsätzlich lieber als jene meist zwar gut erhaltenen, aber dennoch unverkennbar in die Jahre gekommen Herren, die auf die Macht ihrer grauen Schläfen setzten und in ihr etwas sahen, das man sich gönnte wie eine Kur, um sich hinterher jünger zu fühlen.
Zuletzt war sie an einen Zahnarzt geraten, der sich hinter dem Pseudonym Demetrius verborgen hatte und so ganz anders war als seine Generationskollegen. Sofort war Julia von dessen imposanter Erscheinung angetan gewesen, denn tatsächlich erinnerte Alfred auf den ersten Blick an einen erfolgreichen Kriegsherrn. Nicht zuletzt wegen seiner muskulösen Arme, seiner vertrauenerweckenden nahtlosen Bräune und der ruhigen, selbstgewissen Art, mit der er sie während des Essens aus seinen wasserblauen Augen ansah.
Alfred hatte auffallend gute Manieren besessen und |90| sie in der Art, wie er sie manchmal stumm fixierte, an Claudio erinnert, dem sie als Neunzehnjährige bis in die Toskana nachgereist war, um ihn von der Ernsthaftigkeit ihrer Gefühle zu überzeugen. Außerdem hatte ihr gefallen, dass er nichts dem Zufall überließ, sondern sich für den Abend mit ihr offenbar einen Plan zurechtgelegt hatte. Denn als sie vor dem Bungalow standen und er mit den beiden Flaschen Champagner in der Hand, die er auf dem Rücksitz seines Wagens bereitgelegt hatte, kurz ums Haus herumging, um ihr wenig später mit weltmännischer Geste die Tür zu öffnen, da war sie das Gefühl nicht losgeworden, einem echten Abenteurer in die Arme gelaufen zu sein. Und auch im Bett hatte er alles mit beiläufiger Präzision getan. Alfred hatte sie verwöhnt und sich als Künstler erwiesen, der ihre Wünsche regelrecht zu ahnen schien. Doch als sie zur Toilette musste und über den dunklen Flur ins Badezimmer lief, kamen ihr erste Zweifel an Alfreds Stilsicherheit. Denn der große, mit Zahnpastaspritzern gesprenkelte Spiegel passte ebenso wenig zu ihm wie die verfilzten alten Pantoffeln, die unter dem Waschbecken lagen. Und weil sie ihre Zweifel grundsätzlich ernst nahm, schlich sie weiter hinüber in das dunkle Wohnzimmer, knipste die Stehlampe an und sah sich interessiert um. Sie öffnete und schloss die Schubladen des Wandschranks, lief hinüber zum Tisch und blätterte die darauf liegenden Zeitschriften durch. Und dann fiel ihr Blick auf den Stapel ungeöffneter Briefe, den jemand neben das auf dem gepolsterten Fußbänkchen stehende Telefon gelegt hatte.
|91| Julia nahm die Umschläge, die allesamt an einen gewissen Reinhold Taschau adressiert waren, in die Hand und ließ sie nachdenklich durch ihre Finger gleiten. Dann legte sie die Briefe zurück, knipste die Stehlampe wieder aus und lief zurück ins Schlafzimmer. Alfred war unterdessen eingeschlafen und wirkte in dem gedämpften rosafarbenen Licht der Nachttischlampe, über die er ein rotes Tuch gelegt hatte, wie ein gefallener Krieger, den der Triumph einer am Ende gewonnenen Schlacht selbst noch im eigenen Tod lächeln ließ. Und weil sie plötzlich sicher war, dass das ganze Arrangement nicht zum Anfang des Abends passte, zog sie sich lautlos an und verschwand.
Noch Tage später hatte sie damit gerechnet, wieder von Alfred zu hören. Doch es kamen weder Anrufe noch E-Mails von ihm. Und nachdem sie Leander getroffen hatte und aus ihrem Blind Date gegen ihren Willen rasch mehr zu werden begann, hatte sie nicht mehr an Alfred gedacht. Bis zu dem Zeitpunkt, als ihre Freundin Maggie sie anrief und Julia ihr anbot, ihr die Nummer von Lovepoint zu geben, weil Maggie sich über die anhaltende sexuelle Lustlosigkeit ihres Freundes Martin beklagte.
Julia zog vorsichtig ihren linken Arm unter Leanders rechter Schulter hervor, streifte sich ihren Bademantel über, nahm die Zigaretten und das Feuerzeug und ging hinaus auf den Balkon, wo sie sich in einen der Rattansessel setzte und zu rauchen begann.
Aus der Wohnung unter ihr erklang gedämpft klassische Musik, ein schwermütiges Stück für Cello und Klavier. Julia blies den Rauch ihrer Zigarette in Wölkchen |92| in die Luft, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie musste plötzlich an Georg denken, den sie ebenfalls über Lovepoint kennengelernt hatte.
Georg hatte bei ihrem ersten Treffen
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