Leichtes Beben
auf. Unglaublich!
Im Grunde müsste er auf der Stelle die Polizei rufen, damit die dem Treiben des Verrückten da drüben ein Ende machte. Doch statt in die Diele zu eilen und zum Telefonhörer zu greifen, verharrte Koch an seinem Platz und starrte weiter hinüber in das in der Dämmerung hell leuchtende Quadrat. So wie jemand, der fasziniert beobachtet, wie eine Fliege in ein Spinnennetz gerät und durch heftiges Ziehen und Zerren erfolglos versucht, daraus freizukommen.
Plötzlich hatte Koch das irritierende Gefühl, Teil einer geheimnisvollen Inszenierung zu sein, zu der das Treiben des Fremden ebenso gehörte wie die Tatsache, dass er ihm tatenlos dabei zusah. Denn sicher hätte bereits ein Läuten an der Tür des Mannes genügt, um sein Vorhaben zu vereiteln. Doch Koch verscheuchte den Gedanken, denn er wollte den entscheidenden Moment nicht verpassen, wollte sehen, ob der Andere wirklich den Mut hatte, das Begonnene zu Ende zu bringen.
In der Wohnung darunter war die alte Frau dabei, in aller Seelenruhe ihre auf der Fensterbank aufgereihten Topfpflanzen zu gießen. Sie pflückte da und |97| dort ein welkes Blatt ab, zerdrückte es und behielt es in der Faust.
In der Wohnung rechts daneben saß der ältere Mann bei eingeschalteter Stehlampe im Sessel und las Zeitung. Ganz rechts außen stand das Mädchen, ein ziemlich hübsches, am geöffneten Fenster und rauchte eine Zigarette. Gedankenverloren blies sie den Rauch hinaus.
Koch richtete seinen Blick wieder auf den Selbstmordkandidaten. Wie es aussah, war der tatsächlich fest entschlossen. Denn ohne zögern stieg er jetzt wieder auf den Stuhl, angelte nach der Schlinge und streckte seinen Kopf hindurch. Welche Musik er wohl hörte?
Jetzt ist es jeden Moment so weit, dachte Koch. Er registrierte ein Kribbeln auf der Kopfhaut. Daraufhin ließ er nun doch den Feldstecher sinken, eilte in die Diele, riss den Telefonhörer von der Station und lief zurück ans Fenster. Hastig tippte er die Notrufnummer ein, zögerte jedoch, die Ruftaste zu drücken, und hob mit der anderen Hand das Glas vor die Augen.
Der Andere stand nun aufrecht da, zog die Schlinge sorgfältig mit beiden Armen zu und atmete schwer. Koch konnte sehen, wie sich dessen Brustkorb immer schneller hob und senkte.
Koch spürte, wie ausgetrocknet sein Mund war. Als er seine Zunge zu lösen versuchte, ertönte ein kurzes trockenes Schnalzen. Aus dem vor ihm auf dem Fensterbrett liegenden Telefonhörer erklang das Besetztzeichen.
|98| »O mein Gott!«, entfuhr es ihm, als er mitansah, wie der Andere mit einer schnellen, kräftigen Bewegung seines rechten Beins gegen die Sitzfläche des Stuhls trat, der Stuhl seitlich umfiel und im selben Moment ein mächtiger Ruck durch den Leib des Mannes ging. Ein Ruck, der sich wie von Geisterhand auf Kochs eigenen Körper übertrug, seine Arme und Beine zucken ließ. Wie ein an Land geworfener Fisch zappelte der Andere ein paar Mal hin und her. Dann wich alle Spannung aus seinem Körper, und er pendelte aus.
»O Gott, Frida, komm schnell! Schnell, das musst du dir ansehen!«, rief er und fuchtelte mit dem freien Arm, während er mit dem rechten weiter den Feldstecher hielt und hindurchschaute.
»Ach, du und deine ewige Aus-dem-Fenster-Guckerei!«, antwortete seine Frau und verschwand in der Küche.
»Unsinn, Frida!«, rief Koch. »Komm schnell!« Im selben Moment schob sich von rechts eine Arbeitsbühne vor sein Fenster. In dem Liftkorb stand, mit dem Rücken zu ihm, ein mit einem dunklen Overall bekleideter Mann.
»He, verdammt! Weg da!«, rief Koch und drückte den Feldstecher so fest gegen die Stirn, dass es wehtat.
Jetzt kam seine Frau ins Zimmer und trat neben ihn ans Fenster. »Deswegen rufst du mich?«, sagte sie. »Wegen eines Fensterputzers? Sag mal, spinnst du?«
»Unsinn!«,sagte Koch und stierte fassungslos auf den Aufdruck auf dem Rücken des Mannes: Window 24.
»Da gegenüber hat sich gerade einer aufgehängt!«, sagte Koch.
|99| »Bitte, Ulf!«, sagte Kochs Frau ernst. »Was hat das alles zu bedeuten?«
»Ich sag’s dir doch!«, wiederholte Koch, ohne seinen Blick vom Rücken des Mannes lösen zu können. »Da drüben hat sich einer aufgehängt, und jetzt ist da dieser blöde Fensterputzer, und ich krieg nicht mehr mit, was da jetzt los ist!«
»Ulf!«, sagte seine Frau mit flackernder Stimme. »Du machst mir Angst, hörst du.«
»Jetzt verschwinde endlich!«, rief Koch mit Blick auf den Fensterputzer, der an seiner Stelle weiter
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