Leichtes Beben
Überleben eine prickelnde Note verliehen.
Raik blickte kurz von seinem Heft auf und sah, dass die anderen beiden ebenfalls lasen: Der eine erinnerte in seinem billigen grauen Sakko und dem blau-weiß gewürfelten Hemd an einen Lehrer. Er hielt ein zerknittertes |250| Exemplar der Badischen Zeitung in Händen, das jemand achtlos auf seinem Platz liegen gelassen hatte, und überflog durch die kleinen Gläser seiner Nickelbrille mit kaum merklich hin und her pendelndem Kopf die Überschriften.
Der andere, ein etwa vierzigjähriger Typ mit gepflegtem Kurzhaarschnitt, schwarzglänzendem Anzug und einer ebenfalls dunklen, ungewöhnlich eckigen Brille, starrte nervös auf sein iPhone, als erhoffe er sekündlich die alles entscheidende E-Mail.
Sie alle warteten darauf, dass die Gleise endlich wieder passierbar sein würden und ein Zug sie von diesem durch die Stagnation sinnlos gewordenen Ort fortbringen würde.
Doch bis zum nächsten Morgen würde sich an diesem Zustand nichts ändern. Infolge des Bebens entwurzelte und auf die Gleise gestürzte Bäume sowie dadurch beschädigte oder sogar zerstörte Schienen würden das süddeutsche Streckennetz noch für Stunden blockieren.
Die lesenden Männer saßen wie in einer öffentlichen Bücherei unter leise summenden Neonröhren. Bis der Raik schräg gegenübersitzende Lehrer seine Zeitung plötzlich geräuschvoll zusammendrückte und mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb warf. Hörbar verärgert rief er: »Wieso muss so was ausgerechnet heute passieren! Als hätte man nicht schon genug Ärger!«
Als bildeten seine Worte den erlösenden und längst von allen herbeigesehnten Startschuss, schob der iPhone-Mann sein Spielzeug lässig in seine neben sich |251| auf der Bank stehende Tasche und sagte: »Tja, so ist das Leben!«, sodass schließlich auch Raik das Comic-Heft zuklappte, kurz die Arme seitlich von sich streckte und bemerkte: »Shit happens!« Darauf rieb der iPhone-Mann seine Hände, erhob sich und sagte mit ironischem Tonfall:»Wie es aussieht, meine Herren, werden wir die Nacht hier zubringen!«
»Aber wie soll man denn hier schlafen?«, sagte der Lehrertyp im Ton wachsender Ratlosigkeit und rückte an dem Gestell seiner Nickelbrille, sodass die sich in deren Gläsern reflektierenden Neonleuchten kleine Blitze erzeugten. »Bei der Helligkeit? Und auf diesen harten Bänken?«
»Sie können sich ja noch ein Hotelzimmer suchen«, sagte Raik.
»Jetzt? Um die Uhrzeit?«, antwortete der Lehrer. »Sie machen wohl Witze!«
»Sie wären wohl besser vorhin mit den anderen gegangen«, sagte der iPhone-Mann. Dabei fuhr er sich ein paar Mal mit der flachen Hand übers Kinn. »Denn uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als hier zu schlafen.«
»Willkommen im Hotel Deutsche Bahn!«, sagte Raik und gefiel sich in seinem spöttischen Tonfall. Dann zog er aus der Seitentasche seiner Kapuzenjacke eine Schachtel Zigaretten hervor, von dem Lehrertyp genau beobachtet.
»Wollen Sie jetzt etwa anfangen, hier drin zu rauchen?«, sagte er sichtlich beunruhigt.
Raik öffnete die Packung und nahm eine Zigarette heraus. »Was dagegen?«
|252| »Und ob!«, protestierte der Lehrer, »ich bin Nichtraucher.«
Raik sah den iPhone-Mann an, und als der wortlos die Augenbrauen hochzog, schob Raik seine Zigarette widerwillig in die Packung zurück.
»Ich heiße übrigens Paul Andernach«, sagte der iPhone-Mann und streckte dem Lehrertyp die Hand hin.
»Clemens Fitzek«, sagte der und ergriff die Hand. Aus dem Hintergrund sagte Raik, allerdings ohne sich von seinem Platz zu erheben: »Raik Maas.«
»Und was machen wir nun?«, fragte Fitzek und sah auf seine Uhr, die sieben Minuten nach Mitternacht anzeigte.
»Was schlagen Sie denn vor?«, gab Raik zurück, stopfte sich seine Sporttasche in den Rücken und machte es sich auf seiner Bank bequem.
»Ich hab jedenfalls Hunger«, sagte Andernach.
»Ich auch«, sagte Raik und griff automatisch wieder nach seinen Zigaretten, zog seine Hand aber mit Blick auf Andernach im selben Moment zurück.
»Wenn Sie nichts gegen bereits heute Mittag geschmierte Brote haben, hätte ich etwas für Sie«, sagte Fitzek und begann den Reißverschluss an seinem Rollkoffer zu öffnen.
»Kein Problem«, sagte Raik und richtete sich auf.
»Ja, gerne«, sagte Andernach und nahm nun neben Fitzek Platz.
»Meine Mutter hat mir die Brote geschmiert«, sagte Fitzek und hielt Andernach ein Päckchen hin. »Auf dem Rückweg von einem Kongress, an dem ich
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