Leichtes Beben
teilgenommen |253| habe, habe ich sie am Vormittag kurz besucht.«
»Das ist ja richtiges Butterbrotpapier«, sagte Andernach und packte das in helles Pergament eingeschlagene Brot aus.
»Alte Angewohnheit meiner Mutter«, sagte Fitzek matt und hielt nun auch Raik ein helles Päckchen hin.
»Wie alt ist denn Ihre Mutter?«, fragte Andernach und biss in das Brot.
»Dreiundachtzig«, sagte Fitzek, nahm eine Wasserflasche mit einem roten Drehverschluss aus dem Rollkoffer und trank einen Schluck daraus.
»Warum wollen
Sie
die Brote denn nicht?«, fragte Raik und nagte an seiner Schnitte.
»Ich konnte die schon als Junge nicht essen, weil sie jedes Mal zentimeterdick Butter draufgeschmiert hat«, sagte Fitzek und schraubte den roten Verschluss wieder auf die Flasche. »Hundert Mal habe ich ihr gesagt: ›Mutter, ich mag keine Butter!‹ Doch wenn ich dann am nächsten Morgen in der Schulpause hungrig mein Brot auspackte, war
wieder
Butter drauf. Irgendwann habe ich angefangen, die Brote wegzuschmeißen. Als sie mich gestern fragte, ob ich Butterbrote für die Reise mitnehmen wolle, habe ich nicht den Mut gehabt, ihr die Wahrheit zu sagen. Und als ich heute Abend von ihr weg bin, da hat sie mir die verpackten Brote in die Hand gedrückt und lächelnd gesagt: ›Was Gutes für den Zug, mein Junge, Butterbrote!‹«
»Schmecken aber gut, die Butterbrote Ihrer Mutter«, sagte Andernach.
»Ich werde es ihr ausrichten«, sagte Fitzek.
|254| »
Meine
Mutter hat mir immer Obst mitgegeben, wegen der Vitamine«, sagte Andernach. »Einmal habe ich vergessen, die Pfirsiche, die ich am letzten Schultag vor den Ferien nicht gegessen hatte, aus dem Ranzen zu nehmen. Wie das aussah, als ich sechs Wochen später den Ranzen aufgemacht habe, das möchte ich lieber nicht beschreiben.« Er lachte und schob sich den letzten Bissen des Brots in den Mund.
»Bei uns gab’s morgens löslichen Kaffee, und das war’s«, sagte Raik. »In der Schule hab ich dann das gegessen, was die andern nicht mehr haben wollten, und wurde so satt.«
»Manchmal glaube ich, ich bin alleine aus dem Grund Psychologe geworden, weil ich herausfinden wollte, wie es sein kann, dass Menschen andere jahrelang ignorieren und sich hinterher wundern, dass sie von diesen dafür gehasst werden«, sagte Fitzek.
»Und?«, fragte Andernach und faltete das Butterbrotpapier zusammen. »Haben Sie es herausgefunden?«
»Ja, habe ich. Aber meine Mutter hasse ich trotzdem dafür, dass sie sich meine ganze Kindheit hindurch nicht dafür interessiert hat, was ich mochte und was nicht«, sagte Fitzek, verstaute seine Wasserflasche und schloss den Reißverschluss seines Rollkoffers wieder. An Andernach gerichtet, sagte er: »Und was hat Sie hierher verschlagen?«
»Ich habe einen amerikanischen Schriftsteller interviewt, der in der Gegend Urlaub macht«, sagte Andernach. »Im ›Parkhotel Frank‹.«
»Kenne ich«,sagte Fitzek,»ein Fünf-Sterne-Laden.«
|255| »Das Hotel war ausgezeichnet«, sagte Andernach, »aber das Interview leider ein Reinfall.«
»Wieso?«, fragte Raik.
»Weil der Mann sich für etwas ganz Besonderes hält, was er zweifellos ist, sich aber leider auch dementsprechend aufführt! Dabei hatte mich der Redakteur, für den ich das machen wollte, vorgewarnt, Griffin sei sehr kompliziert, um nicht zu sagen verrückt. Doch weil ich alles von ihm gelesen habe und seine Bücher absolut großartig finde, habe ich mich nicht abschrecken lassen und bin hergefahren.«
»Wie heißt der Autor?«, fragte Fitzek.
»James L. Griffin«, erwiderte Andernach. »Der Name wird Ihnen nichts sagen, denn seine Bücher sind selbst in den USA nur absoluten Insidern ein Begriff. Griffin ist äußerst medienscheu und lebt vollkommen zurückgezogen in einem Blockhaus in den Wäldern von Montana. Doch als ich durch einen befreundeten amerikanischen Kollegen, der ihn einmal vor Jahren getroffen hat, zufällig erfuhr, dass Griffin mit seiner Tochter in die Nähe von Freiburg kommt, um zehn Tage Urlaub zu machen, da konnte ich mein Glück kaum fassen und habe sofort ein Zimmer im Parkhotel für die entsprechende Zeit gebucht.«
»Was schreibt der denn so?«, fragte Raik.
»Bislang hat er fünf Romane veröffentlicht, schwere zivilisationskritische Epen«, sagte Andernach mit einem Leuchten in den Augen. »Einer besser als der andere. Der Mann ist zweifellos ein Genie.«
»Sie verdienen Ihr Geld mit Interviews?«, sagte Raik und hielt Andernach seinen Corto Maltese-Comic |256|
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