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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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zurückführte. Doch dann schwoll das Zittern zu einem Schlingern an, und im selben Moment sah ihn die Rezeptionistin mit schreckhaft geweiteten Augen an und rief: »Was ist das? Spüren Sie das auch?«
    |243| Und nach einer weiteren Sekunde, rief sie lauter: »O Gott, die Erde bebt!« Dabei hielt sie sich an Mantheys Arm fest.
    Ungläubig starrte sie hinüber zu den großen, von cremefarbenen, transparenten Vorhängen verhüllten Panoramascheiben, die so geräuschvoll erzitterten, als drückte eine riesige unsichtbare Hand wieder und wieder dagegen. Gleichzeitig schien der Boden unter ihnen zu schwanken, sodass Manthey nicht anders konnte, als den Griff der Rezeptionistin zu erwidern, um ebenfalls Halt zu finden. Dabei sah er wieder ihren entsetzten Blick. Es folgte ein letzter, unwirklich heftiger Erdstoß, der vor Mantheys Augen sämtliche Gegenstände sekundenlang aus ihren Konturen springen ließ – dann war der Spuk vorbei.
    Im ersten Stock wurden Stimmen laut, gefolgt von heftigem Getrappel. Darauf sprang mit einem »Pling« die linke der beiden Fahrstuhltüren auf, eine Frau trat aus dem Innern und rief: »Was war das? Was ist denn hier los?«
    Im selben Moment machte Manthey sich von der Rezeptionistin los und lief, vorbei an der ihn verdutzt ansehenden Frau, zur Treppe und eilte die Stufen hinauf. Als er im zweiten Stock angekommen war, kamen ihm Hotelgäste entgegen, die aufgeregt durcheinanderredeten. Der vorweg Laufende sah ihn an und rief: »Ein Erdbeben! Alle Mann raus hier!«
    Doch als Manthey keine Anstalten machte, sich ihnen anzuschließen, und stattdessen weiterging, hörte er, wie einer hinter ihm sagte: »Der ist wohl wahnsinnig!«
    |244| Doch das war Manthey egal. Denn das hier war seine Chance, war der Wink des Himmels, auf den er so verzweifelt gewartet hatte. Mit jedem Schritt, mit dem er sich seinem Zimmer näherte, spürte er deutlicher, wie sich etwas in ihm in Bewegung zu setzen und ihn aus seiner Erstarrung zu lösen begann.
    Eilig schloss er die Zimmertür auf, riss den Staubschutz von der Maschine, nahm Platz und hieb, wie dem Diktat eines anderen gehorchend, auf die Tasten. Und tatsächlich flossen die Worte und Sätze übers Papier, füllten eine Seite und noch eine. Brachen aus ihm heraus wie Steine aus einer jahrzehntelang festgefügten Mauer. Bis Manthey nach einer knappen Stunde, die er ohne Unterbrechung über die Maschine gebeugt geschrieben hatte, erstmals von dem Geschriebenen aufsah und überrascht feststellte, dass es rings um ihn her dunkel geworden war und dass das Restlicht, das es ihm ermöglich hatte, trotzdem weiterzutippen, von draußen kam, von der Laterne unmittelbar vor seinem Fenster. Weiß und hell floss es zwischen den nicht zugezogenen Vorhängen zu ihm herein und aufs Papier.
    Während er schrieb, hatte er ein paar Mal auf dem Flur und unten auf der Straße aufgeregte Stimmen vernommen. Später an- und wieder abschwellende Polizeisirenen, die Feuerwehr. Doch er hatte dem keine größere Aufmerksamkeit geschenkt und unbeirrt weitergeschrieben. Er hatte sich von seinen Sätzen zurücktragen lassen zu jenem Ereignis, für das er, obgleich es inzwischen mehr als dreißig Jahre zurücklag, bis zum heutigen Tag keine Worte gefunden hatte: |245| dem Autounfall, bei dem seine Eltern ums Leben gekommen waren. Denn das Gefühl, das ihn unten in der Halle erfasst und sich bis zu seinem Herzen fortgepflanzt hatte, war jenem nicht unähnlich gewesen, das ihn damals durchzuckt hatte, als der vom Vater durch die Nacht gesteuerte Wagen plötzlich seitlich ausbrach, sich mehrfach um die eigene Achse drehte und schließlich gegen die Leitplanke krachte. Die Köpfe der Eltern waren gegen die Frontscheibe geprallt, und Manthey, damals zehn Jahre alt, war, nachdem der Wagen abrupt zum Stillstand gekommen war, wie betäubt unter dem Rücksitz hervorgekommen. Er sah die blutverschmierte Frontscheibe und die beiden reglosen Körper und registrierte plötzlich den Geruch von Metall.
    Es hatte seinerzeit noch keine Sicherheitsgurte gegeben, und seine Eltern waren auf der Stelle tot gewesen. Manthey, der anschließend eine Zeitlang in ein Heim und, wenig später, zu seiner Tante, der Schwester seines Vaters, gekommen war, hatte es sich von da an strikt untersagt, jemals wieder an den Ort des Grauens zurückzukehren, weder real noch in Gedanken. Und jedes Mal, wenn er dieses Versprechen auch nur ansatzweise brach, war ihm, als stehe er am schmalen Rand eines dunklen, viele Hundert

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