Leichtes Beben
Meter tiefen Kraters, in den er stürzen konnte, wenn er nicht auf der Hut war.
Doch nun, zwei Stunden nach dem Erdstoß, saß Manthey immer noch an der Maschine und schrieb, brachte zu Papier, was ihm seine Erinnerung diktierte. Inzwischen hatte er allerdings das Schreibtischlämpchen |246| eingeschaltet und sich aus der Minibar eine Flasche Mineralwasser genommen, die halb ausgetrunken neben der Maschine stand.
Irgendwann nahm Manthey die schwer gewordenen Hände von der Tastatur, gähnte, hob beide Arme langsam in die Höhe und streckte sich. Dann stand er auf und drehte das kleine, oberhalb seines Bettes in die Holzverkleidung eingelassene Radio an.
Das Beben, so hieß es, habe eine Stärke von 5,3 auf der Richterskala gehabt. Von umgestürzten Bäumen war die Rede, von durch die Erschütterungen beschädigten Häusern und Industrieanlagen sowie von einem Toten, der von herabfallenden Dachziegeln getroffen worden sei. Es habe Stromausfälle in weiten Teilen Süddeutschlands gegeben. Im Umland von Freiburg sei ein Pferd aus einer Koppel ausgebrochen und mit einem herannahenden Regionalzug kollidiert. Offenbar hatte das Tier das einsetzende Beben gewittert und war in Panik geraten. Es folgten politische Meldungen, anschließend die Wetteraussichten.
Manthey drehte das Radio ab, trat ans Fenster und spähte hinaus in die Nacht, die hier und da von Lichtern durchsetzt war. Er fühlte sich leicht. Denn wenn nicht alle Anzeichen täuschten, war er im Begriff, in ein neues Buch einzutauchen. Endlich. Der Roman würde die Ereignisse von damals erzählen, verwandelt zur Geschichte eines in einem Aufzug festsitzenden Mannes, der während eines Erdbebens einer Frau die tragische Geschichte eines Autounfalls erzählt. Und er würde ihm den Titel »Leichtes Beben« geben.
|247| Der Schein der Laterne schraffierte den nun schwach in der Dunkelheit niedergehenden Regen. Bis auf eine in der Ferne schwach vernehmbare Polizeisirene war draußen wieder alles ruhig. Und für Sekunden dachte Manthey an das Beben wie an einen großen, starken Freund, der einen in die kräftigen Arme schloss, kurz herumwirbelte und anschließend wieder auf die Füße stellte.
|248| Vierundzwanzig
Die drei Reisenden waren einander schon am inzwischen geschlossenen Informationsschalter begegnet. Nun saßen sie sich im Warteraum mit gesenkten Blicken gegenüber.
Alle anderen Weiterreisenden hatten es vorgezogen, sich in der Stadt nach einem Zimmer umzusehen, und den Taxistand aufgesucht, als die Durchsage kam, dass der Zugverkehr infolge der Schäden des Erdbebens am Mittag bis auf weiteres eingestellt worden sei.
Die Uhr über dem aus einer hellen Glasfassade bestehenden Eingang zeigte an, dass es kurz vor Mitternacht war, und die weitläufige, täglich von mehreren Tausend Fahrgästen frequentierte Wandelhalle des Freiburger Bahnhofs präsentierte sich nun als verlassener zugiger Korridor. Nur noch selten waren Stimmen und Gelächter zu vernehmen, etwa, als aus dem im Nordteil des Gebäudes untergebrachten Planetarium die Besucher der Hauptvorstellung die Halle durchquerten auf ihrem Weg hinaus in die Nacht.
Der jüngste der drei Wartenden trug eine schwarze |249| Kapuzenjacke, Jeans und schwere, ebenfalls schwarze Stiefel; er las in einem
graphic novel
, der den Titel »Ein indianischer Sommer« trug. Das Heft war lange vergriffen gewesen, doch nun endlich wieder neu aufgelegt worden.
Raik Maas liebte die »Corto Maltese«-Reihe, die der Italiener Hugo Pratt Ende der sechziger Jahre erschaffen hatte. Ihr Held war der britisch-maltesische Kapitän und Frauenheld Corto Maltese, der ohne Schiff auf der Seite der Unterdrückten kämpft und den seine Abenteuer rund um den Globus führen.
Als Pratt Corto Maltese erstmals losließ auf eine vom Ersten Weltkrieg verwüstete Zivilisation, war Raik noch gar nicht auf der Welt gewesen. Doch wenn er sich jetzt als fast Dreißigjähriger in Malteses Abenteuer versenkte, hatte er das Gefühl, selbst eine Art Seemann zu sein, der wie Corto in dem Band »Das Reich Mu« auf der Suche nach einem mythischen Inselreich ist und ein Leben auf schwerer See führt. Und spätestens seit der Sache mit dem Jungen, der ihm zwei Tage zuvor nachts plötzlich vors Auto gelaufen war, bestand für Raik endgültig kein Zweifel mehr daran, dass das Leben ein verdammt gefährliches Abenteuer war. An dieser Tatsache konnten auch Milo Manaras zweifellos ziemlich erotische Zeichnungen nichts ändern, die Malteses Kampf ums
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