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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Schulz.«
    |289| Und dann wanderte sein Blick wieder hinauf zu dem Wandspiegel, in dem er wieder den jungen Kartenspieler fixierte. Unverändert über seine Karten gebeugt, schien er von nichts und niemandem jenseits seines Gesichtsfeldes Notiz zu nehmen. Eine Erscheinung, die zweifellos in der Menge unauffällig bliebe, dachte Schulz. Trotzdem ging von dem jungen Mann, dieses Gefühl hatte er jedenfalls, etwas Besonderes aus. Eine jugendliche Spannung und eine Ungebundenheit, um die er ihn plötzlich beneidete.
    Ja, beneidenswert, dachte Schulz und studierte die Physiognomie des jungen Mannes, der wirkte, als fürchtete er sich, ganz im Gegensatz zu ihm selbst, vor nichts und niemandem. Blasse Haut, zerzaustes rotes Haar, das ein nicht sehr breites Gesicht umrahmte.
    »Verheiratet?«, fragte Wilke und riss Schulz jäh aus seinen Gedanken.
    »Äh, ja«, antwortete der und fuhr sich wie jemand, der sich ertappt fühlte, ein paar Mal mit der flachen Hand über das kurz geschnittene, nicht mehr sehr dichte Haar. »Und Sie?«
    »Nein, nein«, sagte Wilke. »Gott sei Dank nicht, bei meinem Beruf.«
    »Was machen Sie denn?«, fragte Schulz und trank einen Schluck Bier.
    »Buchvertreter«, antwortete Wilke, »ich reise für Verlage durchs Land und klappere Buchläden ab.«
    »Aha«, sagte Schulz.
    Da sagte Wilke unvermittelt: »Also heute hab ich wirklich was Irres erlebt«, und dann erzählte er Schulz von seiner Begegnung mit einer Nachtclubtänzerin, |290| die sich ihm am Ende als Verehrerin aus Schulzeiten offenbarte.
    »Ist doch super«, sagte Schulz und leerte sein Glas. »Angesparte Frauen für schlechte Zeiten sozusagen.«
    »Na ja, es war eher ein bisschen seltsam«, sagte Wilke und wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. »Als die anfing, sich auszuziehen, dachte ich zuerst: Aha, so soll das hier laufen. Doch als sie mich plötzlich packte, mir grob ihre Brüste aufs Gesicht drückte und Geld verlangte, da hab ich gedacht: Die spinnt wohl. Ich bin aufgestanden und abgehauen.«
    Großspurig fügte er hinzu: »Ich hab mir gleich gedacht, dass die sie nicht alle hat. Aber weil sie ganz gut aussah und nicht nachließ, mich zu bitten, hab ich gedacht: Okay, wenn sie’s nicht anders will, und bin mit in ihre Wohnung. Ziemlich trübselige Wohnung übrigens, kann ich Ihnen sagen! Billige Drucke an den Wänden, Ikea-Möbel, verfleckte Teppiche, na, Sie wissen schon.«
    »O ja«, sagte Schulz, der noch nie in der Wohnung einer alleinstehenden Frau gewesen war, schon gar nicht in der einer Nachtclubtänzerin mit Ikea-Möbeln. Und auch deshalb wollte er schlagartig das Thema wechseln: »Meine Mutter war, ehrlich gesagt, eine ziemliche Heulsuse. Dauernd hatte sie was zu jammern. Und als ich ihr sagte, dass ich das Geschäft meines Vaters verkaufe, da ist sie beinahe ohnmächtig geworden. Doch ich hab mich nicht erweichen lassen durch ihr Theater. Denn wenn’s drauf ankommt, kann ich verdammt hart sein. Aber Sie wissen bestimmt, wie alte Leute sind, können sich von nichts trennen.«
    |291| Wilke sagte: »Aber tolle Brüste hatte die, das muss man ihr lassen. Groß und kugelrund wie reife Apfelsinen.«
    »So«, sagte Schulz und dachte an die Brüste seiner Frau, die keineswegs so groß wie Apfelsinen waren. Und auch nicht kugelrund. Eher wie Klaräpfel, nicht sehr groß und knollig.
    Eine Gruppe Fernfahrer betrat die Raststätte, Männer, die einander gut zu kennen schienen.
    »Sind Sie öfter hier?«, fragte Schulz, der vergessen hatte, dass sie in einer Autobahnraststätte saßen.
    »Früher bin ich oft hier gewesen«, antwortete Wilke. »Ich bin nicht weit von hier zur Schule gegangen. War oft spätnachts mit Freunden hier.«
    »Na, so ein Zufall, ich auch!«, rief Schulz begeistert. »Ich war früher manchmal dreimal die Woche hier! Da sind wir uns bestimmt begegnet.«
    Auf einmal stand der junge Kartenspieler mit einer Zigarette in der Hand neben ihm und fragte: »Hat zufällig einer der Herren ein Feuerzeug bei sich?«
    »Nee«, antwortete Schulz und sah über die Schulter des jungen Mannes hinweg, dass zwischen den Fernfahrern eine junge, ziemlich attraktive Frau saß, die mit in den Nacken gelegtem Kopf und unter dem lauten Gegröle der Männer ihr halbvolles Bierglas auf der Stirn balancierte.
    »Gucken Sie mal die da!«, sagte er und stieß Wilke mit dem Arm an.
    »Klasse«, sagte der junge Mann, klemmte sich seine Zigarette wie einen Bleistift hinters rechte Ohr und begann rhythmisch in die Hände zu

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