Leichtes Beben
Frau denken, die zu Hause in ihrem gemeinsamen Bett lag und schlief. Und an ihre Brüste, die nicht kugelrund wie Apfelsinen waren. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten.
Auf einmal erfasste ihn ein leichtes Schwindelgefühl, sodass er sich vorsichtig an der von der Nachtluft feucht gewordenen LKW-Plane abstützte. Er musste an Wilke und Edwin denken, die sich zum Narren gemacht und ihn fast dazu gebracht hatten, es ebenfalls zu tun. Ich wollte kein Spielverderber sein, dachte Schulz und vernahm nun das Stöhnen des Mannes. Sollen sie ruhig denken, dass ich einer bin. Denn es ist immer noch ein Unterschied, ob man eine verrückt gewordene ehemalige Verehrerin wiedertrifft und in deren Bett landet oder ob man seine Mutter verliert. Denn wie hatte Wilke richtig gesagt: Man hat nur eine Mutter.
Er roch an seinen Fingern und stellte überrascht fest, dass der Seifengeruch verschwunden war.
|296| Achtundzwanzig
Anna saß, wie zuletzt fast jeden Tag, auf ihrem Stuhl an seinem Bett und ließ ihren Blick über den reglosen Körper wandern. Und wie schon beim letzten Mal war ihr auch diesmal, als würde sie jemand beobachten. Doch wer sollte das sein? Und wie? Das Zimmer befand sich im zweiten Stockwerk, und bis auf die Schwester, die manchmal anklopfte und hereinkam und fragte, ob alles in Ordnung sei, waren sie ganz allein: Jakob und sie. Trotzdem hatte Anna so ein komisches Gefühl.
Vor dem von hellen, leichten Vorhängen rechts und links begrenzten Fenster türmten sich mächtige Wolkenberge, grauweiße Gebilde, die sekündlich ihre Form veränderten und sie mal an einen freundlichen Riesen erinnerten, mal an die Umrisse eines davonschwebenden und sich wie in Zeitlupe aus dem engen Bildausschnitt schiebenden Zeppelins.
Die diensthabende Schwester, eine zierliche Asiatin mit kurzen Armen und einer kleinen platten Nase, hatte ihr auf dem Flur kurz zugenickt. Inzwischen kam Anna seit fast sechs Wochen hierher, doch noch |297| immer konnte sie sich nicht an den Anblick ihres Bruders gewöhnen. Reglos wie am ersten Tag lag Jakob auf dem Rücken, bekleidet mit einer hellblauen Schlafanzughose und einem weißen, ärmellosen, feingerippten Unterhemd, auf dem sich auf Höhe des sich gleichmäßig hebenden und senkenden Oberbauchs dunkle Schweißflecke gebildet hatten. Er schwitzt, dachte sie. Sein Körper arbeitet. Also lebt er.
Jakob war mit zwei Gummischläuchen verbunden. Über den einen wurde er künstlich beatmet, der andere versorgte ihn mit flüssiger Nahrung. Manchmal kam die jeweils diensthabende Schwester ins Zimmer und säuberte mit einem Wattestäbchen, das die Größe eines Suppenlöffels hatte, seinen Rachen, in dem sich mit der Zeit Speichelpartikel festsetzten.
Zögerlich schoben sich ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und tauchten das Zimmer in einen warmen, goldenen Ton. Sofort war die Stimmung viel freundlicher, und der Eindruck, sie sitze an einem Sterbebett, verflog.
Auf einen Außenstehenden musste Jakobs Anblick einen zutiefst friedlichen Eindruck machen, wie er so dalag, ein Mann Anfang fünfzig, der, im Schlaf gefangen, so ruhig und gleichmäßig atmete, dass jeder Atemlehrer seine Freude an ihm gehabt hätte.
Nach seinem vorletzten Zusammenruch war er langsam wieder zu Kräften gekommen und hatte gelegentlich das Sanatorium verlassen, um längere Spaziergänge im angrenzenden Naturschutzgebiet zu unternehmen. Meist war er nach dem Mittagessen aufgebrochen und erst am frühen Abend mit einer Handvoll |298| kleiner funkelnder Steine in seinem Rucksack und einem bunten Strauß selbstgepflückter Wiesenblumen in der Hand zurückgekehrt. Auch jetzt stand eine kleine hellbraune Tonvase mit Wiesenblumen auf dem Tisch. Anna hatte sie am Vortag gepflückt.
Ein paar Mal hatte sie ihren Bruder auf seinen Wanderungen begleitet, sie hatten Vögel beobachtet, Blumen gepflückt und sich auf eine Decke unter einen Baum gesetzt, um in dessen kühlendem Schatten miteinander zu reden, Wasser zu trinken und in Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse zu schwelgen.
Jakob und sie waren einander dabei so nahegekommen wie seit ihrer Jugend nicht mehr. Sie hatten erstmals über ihre Eltern geredet, ohne in Streit auszubrechen, über Annas gescheiterte Ehe und auch über seine Krankheit und was sie in all den Jahren aus ihm gemacht hatte.
Drei Tage, bevor sie der Anruf des Sanatoriums erreichte, der alles ändern sollte, hatte die Erde gebebt. Anna hatte in
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