Leichtes Beben
zwischen all den LKW-Fahrern zu sitzen, Bier zu trinken, ihrem Gerede zuzuhören und mit seinen Freunden Pläne zu schmieden, von einer aufregenden Zukunft und fernen Ländern zu träumen |286| und von der großen Liebe, in der Nase den Geruch von Gummi und Benzin.
Inzwischen saß Schulz seit mehr als zwei Stunden an seinem Platz und stierte, nachdem er lustlos ein Schinken-Käse-Baguette gegessen und mehrere Tassen Kaffee getrunken hatte, gelangweilt in sein Bier. Es war bereits dunkel, und die Lichter der Scheinwerfer bildeten flackernde Muster in der Schwärze, die er in dem großen Spiegel an der Wand über der Theke gespiegelt sah.
Trotzdem wurde Schulz den Anblick seiner toten Mutter einfach nicht los. Ihre eingefallenen Züge nicht, die plötzlich kantig gewirkt hatten, und auch die vor der Brust gefalteten Hände nicht. Dazu dieser betäubende Geruch des Duftspenders, der in dem abgedunkelten Zimmer geherrscht hatte. Noch als sie bereits wieder im Wagen saßen, steckte ihm dessen widerlicher Geruch in der Nase. Doch am schlimmsten war die Berührung der kalten Stirn der Toten gewesen; als fasse er gefrorenen Stahl an.
Schulz roch wieder an seinen Händen. Er hatte seinen vom vielen Waschen wunden Zeigefinger in den Kaffee und später in sein Bierglas getaucht, aber der Seifengeruch kehrte früher oder später wieder. Es war zum Verrücktwerden.
Ja, er hatte ihr gesagt, dass er den Betrieb des Vaters verkauft hatte, endlich. Obwohl der Verkauf bereits zehn Tage zurücklag. Und im ersten Moment hatte er sich sicher, hatte sich endlich überlegen gefühlt. Dabei war er in Wahrheit nichts anderes als ein Postzusteller, der das alles entscheidende Telegramm nicht |287| losgeworden war, obwohl er genau darauf all die Jahre gewartet hatte.
In dem Spiegel über dem Tresen beobachtete Schulz seit ein paar Minuten einen jungen, mit einer Jeansjacke bekleideten Mann. Eine Zeitlang hatte dieser in einem Buch gelesen, nun lagen im Schein der über dem Tisch hängenden Lampe bunte Spielkarten ausgebreitet vor ihm. Irgendwelchen Regeln folgend, schob er die Karten entweder hin und her, oder er tauschte eine gegen eine andere aus, die er von dem vor ihm liegenden Stapel nahm. Schulz hatte das schon in Filmen gesehen. Was das allerdings zu bedeuten hatte, daraus wurde er auch nach längerem Zusehen nicht schlau. Neben dem Mann, das konnte Schulz deutlich erkennen, lagen ein Rucksack und ein zusammengerollter Schlafsack auf dem Boden.
Der fliegende Wechsel der Karten, die laute Musik und die Stimmen sowie das stete Kommen und Gehen an diesem Ort schläferten Schulz langsam ein. Und womöglich wäre er trotz des Lärms in der Raststätte tatsächlich über seinem Bierglas eingenickt, hätte nicht plötzlich ein Mann neben ihm gestanden und zu der Bedienung gesagt: »Einen doppelten Korn, bitte!«
»Wir haben nur Grappa, Wodka oder Himbeergeist«, erwiderte die Bedienung mit leiernder Stimme.
»Dann eben Grappa«, sagte der Fremde. »Aber einen doppelten.«
Auf Schulz machte er einen gehetzten Eindruck, die Augen waren gerötet, seine Gesichtszüge angespannt. Nachdem die Bedienung ihm wortlos den doppelten Grappa hingestellt hatte, kippte der Mann |288| den Inhalt des Glases auf einen Zug hinunter, schloss die Augen und stöhnte zufrieden auf. Anschließend bestellte er noch einmal das Gleiche. Dann nahm er auf dem Hocker neben Schulz Platz.
»Leicht gestresst, was?«, sagte Schulz und sah seinen Nebenmann fragend an.
»Wieso?«, antwortete der andere überrascht.
»Na, weil Sie so wirken«, sagte Schulz.
»So? Tue ich das?«
»Ja, irgendwie schon«, sagte Schulz und nippte an seinem Bier.
»Was geht Sie das überhaupt an?«, fragte der Fremde, schob aber gleich freundlicher hinterher: »Und was ist mit Ihnen?«
»Was soll mit mir sein? Ich sitze schon seit Stunden hier«, sagte Schulz.
»Meine Mutter ist heute Morgen gestorben.«
»Ach, das tut mir leid«, sagte der Mann und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Man hat nur eine Mutter, nicht?«
»Ja«, sagte Schulz. »Und ich Idiot hab sie angefasst.« Dabei schüttelte er den Kopf.
»Was meinen Sie mit angefasst?«
»Na, mit der Hand! Ich hab ihre eiskalte Stirn angefasst. Und seitdem habe ich das Gefühl, selbst eingefroren zu sein. Ich sitze und sitze hier, aber mir wird partout nicht warm.«
Der andere streckte ihm die Hand hin und sagte: »Robert Wilke, freut mich!«
Schulz ergriff die ausgestreckte Hand und sagte: »Schulz, Andreas
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