Leichtmatrosen: Roman (German Edition)
und die Probleme der Zwillinge nicht durchsetzen konnte.Mit sechzehn bekam er, vom Deutschlehrer vermittelt, die Chance, an der Eignungsprüfung einer Schauspielschule teilzunehmen, gab den »Mauler« aus Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« – hier unterbrach er die Erzählung und präsentierte uns kurz eine beeindruckende Szene, der »andere Simon« wurde wieder sichtbar – und holte sich eine feste Zusage nebst Stipendium für die Zeit nach dem Abitur ab. Noch zweieinhalb Jahre und er würde seinen Traum verwirklichen können, er zählte die Monate, dann die Wochen und schließlich nur noch Tage. Das solide Zwei-Komma-fünf-Abitur war längst sicher, und das Fach, das die Durchschnittsnote herunterzog, war Mathematik – eine Disziplin, die Simon seit jeher als reine Folter betrachtete: Zahlen waren abstrakt und virtuell, hatten aber nichts mit der Fiktion gemein, die er so liebte und so gerne verkörperte.
Dann jedoch hatte Norbert Radler mit einer Baumaschine, die er qualifikationsgemäß nicht hätte bedienen dürfen, einen Unfall, verlor erst den Unterschenkel und kurz darauf das ganze rechte Bein – aber weder die Unfallversicherung noch die Berufsgenossenschaft traten ein, weil sich die Weisung des Auftraggebers nicht belegen ließ, sondern verwickelten das Ehepaar Radler in nicht enden wollende Briefwechsel und Prozesse, bis das Ehepaar, kurz vor dem Ruin, drei Jahre später auf- und sich dem Schicksal ergab.
Simon hatte nicht einmal die Chance, die Alternativen zu wählen. Er hatte dem Vater an den Wochenenden geholfen, beherrschte die Technik und das Material, weshalb es nur eine Option gab: Er musste in Norbert Radlers schmale Fußstapfen treten, um das Überleben der Familie zu sichern. Aus der Traum von der Schauspielerei, aber Simon, nunmehr Ersatzmann des Vaters, lernte eine neue Rolle: die des bauernschlauen, sich aber aus Gründen des Understatements nie den Kunden überlegen zeigenden Handwerkers, der seinen Job technisch exzellent machte, sich aber nie endgültig denZwängen fügte. Seine Form von Widerstand manifestierte sich in der Missachtung der äußeren Notwendigkeiten: Er arbeitete zwar gut und auch schnell, ergab sich aber nie dem Termindruck, missachtete Vereinbarungen und blieb im Kleinen der Künstler, der er im Großen nicht mehr sein durfte, nie hatte sein dürfen. Das funktionierte auch halbwegs, solange die Auftraggeber noch Vorschussschecks ausstellten und die Zahlungsmoral nicht zu jener Zahlungsunmoral wurde, die Mitte der Neunziger die gesamte Baubranche ergriff, als die Pleite von Subunternehmern zum kalkulierten Bestandteil der Finanzplanung von Projekten wurde, was Ende der Neunziger seine Klimax erreichte und nach dem Jahrtausendwechsel als unumstößliche Vorgehensweise etabliert wurde.
Edith und Norbert wohnten zu diesem Zeitpunkt längst in einem staatsfinanzierten Altenheim, Christine und Christina lebten in einer von der Krankenkasse bezahlten betreuten Wohngemeinschaft der Diakonie. Familiäre Gründe, das ungeliebte Unternehmen weiter zu betreiben, gab es nun nicht mehr, doch das Erbe, das jetzt abzuarbeiten war, hatte Simon selbst angehäuft: Seine mäßige Terminplanung und die Unart, Projekte mit viel Verve anzufangen, um alsbald zum Laissez-faire überzugehen, verbunden mit der ohnehin schwierigen Situation in der Branche, hatten ihn Schulden anhäufen lassen, die schnell sämtliche Außenstände überstiegen, von denen die meisten ohnehin kaum noch einzutreiben waren. Außerdem hatte er sich auch körperlich gehen lassen, seine Gesundheit aktiv ruiniert; die Zähne markierten lediglich die Spitze des Eisbergs. Die einsetzende Abwärtsspirale war ebenso alternativlos wie jene Entscheidung, das väterliche Erbe anzutreten: Simon nutzte die begeisterten Empfehlungen neuer Kunden, die noch nicht ahnten, was mittelfristig unvermeidbar auf sie zukäme, und sammelte verbrannte Erde wie chinesische Investoren europäische Technologieunternehmen. Er wurde zum Nomaden, gejagt von Gläubigern, gehasstvon unzufriedenen Kunden, frustriert von der aussichtslosen Situation. Simon wechselte den Wohnsitz wie andere ihre morgendliche Unterwäsche, hauste bei Freunden, Täubchen , Kunden und schließlich wildfremden Menschen, die seinem Charme und seinen Renditeversprechungen erlagen.
Die Geschichte endete vorläufig damit, dass ihm ein Kumpel, der noch nicht völlig vergrätzt war, einen Job bei einem Albaner vermittelte, einem Neureichen, der sich südlich
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