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Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Leichtmatrosen: Roman (German Edition)

Titel: Leichtmatrosen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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leerzupumpen.
    »Mmh«, brummte die Frau, die uns gewinkt hatte und inzwischen in einem Holzverschlag saß, der ein Schild mit der Aufschrift »Hafenmeisterei« trug. Offenbar waren sämtliche Hafenmeister Hafenmeisterinnen . Neben Liegeplätzen gab es hier Süßigkeiten, Getränke, Zigaretten und die Möglichkeit, Brötchen für morgens zu bestellen. »Peter ist gestern zum Plauer See aufgebrochen. Der kommt heute nicht mehr rein. Mmh. Ich zeige euch das. Fünfzehn Meter?«
    Ich nickte.
    »Müsste gehen.«
    Es ging. Der Liegeplatz lag am äußerst rechten Steg, und wir rasierten nur einen kleinen Teil des Uferschilfs, als wir rückwärts anlegten. Ein paar Enten protestierten, möglicherweise war die Familienunterkunft etwas in Mitleidenschaft gezogen worden.
    »Nett hier«, sagte Simon und sah grinsend der Hafenmeisterin hinterher. Beuteschema. Anfang vierzig, Tendenz mollig, aber durchaus verhältnismäßig attraktiv.
    »Hast du noch nicht genug?«, fragte ich freundlich.
    »Genug hat man, wenn man unterm Arsch das Krematoriumsfeuer spürt.« Er grinste, präsentierte »Dresden 1945« und zündete sich eine neue Kippe an.
    Wir versiegelten die lädierte Tusse und enterten die Restaurantterrasse. Es gab – wie überraschend – Hausmannskost, aber wir hatten seit anderthalb Tagen nichts Vernünftiges mehr gegessen – und allesamt einen Mordshunger. Um uns herum saßen ältere Pärchen, denen vermutlich die Jachten im Hafen gehörten, ein paar ebenfalls ältere Leute, die gut als Touristen zu erkennen waren (meistens an den analogen Fotoapparaten um die Hälse, für die es erstaunlicherweise noch Filmmaterial zu geben schien) und einige Familien mit Kindern, die lautstark den Hafenspielplatz nutzten. Man nickte uns freundlich zu, wir nickten freundlich zurück, Simon verdrehte den Hals zur Hafenmeisterei. Henner hielt seinen rot glühenden, mit Mückenstichen übersäten Schädel in die Sonne. Mark verschwand auf die Toilette, obwohl er Minuten zuvor an Bord gepinkelt hatte. Keine schöne Angewohnheit, diese mistige Kokserei. Aber es gab leider kein Argument dagegen – wir hatten es schließlich vor zwei Tagen für gesellschaftsfähig befunden.

    »Okay, raus damit«, sagte ich zu Henner, nachdem wir bestellt hatten. »Woher kennst du Cora?«
    Er blinzelte, vielleicht war es auch ein Zwinkern.
    »Du hast nicht viele Freunde.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
    Nein, hatte ich nicht. Während der Oberschulzeit war eine intensive freundschaftsähnliche Beziehung zwischen mir und einem etwas seltsamen, eigenbrötlerischen, aber sehr charismatischen Typen namens Jens entstanden, der vor Selbstbewusstsein beinahe platzte und sich für etwas deutlich Besseres hielt als alle anderen Menschen auf dem Planeten, ohne dass sich dies etwa über seine Schulnoten oder wenigstens sportliche Leistungen beweisen ließ – hier war er Mittelmaß. Aus Gründen, die ich nie verstanden hatte, war Jens zu der Schlussfolgerung gelangt, dass ich seiner wert wäre, worausauf seine Initiative, die an Drängen grenzte, etwas wuchs, dessen Wesen ich lange nicht begriff. Wir verbrachten viel Freizeit miteinander, Jens führte mich in seine seltsame Welt ein und auch in seine Familie, die faktisch unter seiner Knechtschaft lebte – er waltete und schaltete, wie er Lust und Laune hatte. Meine Eltern hatten mich zu einer obskuren Skepsis »Fremden« gegenüber erzogen, und Fremde waren praktisch alle Menschen, die nicht direkt zur Familie gehörten. Jens zeigte mir, dass diese Skepsis unangebracht war, und brachte mich dazu, mich ihm zu öffnen. Das war eine so seltsame, beglückende neue Erfahrung, dass mir das Fehlen der seinerseitigen Öffnung völlig entging. Nach ein paar Monaten brach er mit mir, einfach so und offenbar grundlos. Ich habe nie erfahren, was all das zu bedeuten hatte, fühlte mich getäuscht und kehrte sofort und umso intensiver zur familiären Skepsis »Fremden« gegenüber zurück. Mit einigen Kollegen aus dem Verlag traf ich mich hin und wieder, um bei Wein und Pasta über die Branche, unseren Laden und die Autoren zu schwätzen, und es gab natürlich Greta Meggs, aber, nein, ich hatte nicht viele Freunde. Genau genommen überhaupt keine. Von Cora abgesehen, die es vermutlich nicht mehr in meinem Leben gab. Und diesen drei Männern, mit denen ich eigentlich nur Badminton spielte.
    Ich schüttelte den Kopf, Henner nickte.
    »Sie hat mich angerufen. Das war vor, ich weiß nicht genau, sechs oder sieben

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