Leiden sollst du
zu treffen.
Kurz dachte sie daran, einfach ins Badezimmer zu gehen und Ben zu schütteln, bis er endlich aus seinem Schneckenhaus herauskam und ihr erzählte, was ihm auf der Seele lag. Um zu sehen, dass ihn etwas belastete, dafür musste sie keine studierte Psychologin sein. Durch ihren Nebenberuf als Gerichtszeichnerin war sie es gewohnt, die Gesichter der Menschen zu lesen und feine Nuancen wahrzunehmen. Zudem hatte sie schon als Kind sensible Antennen entwickelt, um die Gemütsschwankungen ihrer Mutter frühzeitig wahrzunehmen und sich bei schlechter Laune in einem entlegenen Winkel der Bast-Villa zu verstecken.
Benjamin litt. Er quälte sich mit etwas, das ihn mit jedem Tag mehr belastete. Nachdem er seinen Freund Denis vom Selbstmord abgehalten hatte, ging es ihm kurz besser, nur um danach in ein noch tieferes Loch zu fallen.
Sie hatte mit ihm darüber reden wollen. Gestern und heute Morgen wieder, doch er blockte genauso ab wie Daniel. Wahrscheinlich war sie immer noch zu nett zu ihnen. Aber es fiel ihr schwer, die Stimme zu erheben und sich durchzusetzen, weil sie das nie gelernt hatte. Sie war stets vor ihrer Mutter geflohen, erst in ein Versteck im Haus, dann in eine Ausbildung nach Hamburg und schließlich in die Ehe mit Daniel. Aber sie liebte ihn wirklich. Benjamin ebenfalls. Sie hatte keineswegs vor, die beiden jetzt schon aufzugeben. Denn bei all den Tränen, der Scham und der Verletzung an Körper und Geist, hatte sie ihrer Mutter auch etwas zu verdanken.
Ihre schwere Kindheit hatte sie zu einer Kämpferin gemacht. Keine, die kreischend und mit gezücktem Schwert auf den Feind losging. Wohl aber eine, die mit leisen Waffen kämpfte, mit Durchhaltevermögen, Worten, Geduld und Zuneigung.
Im Moment allerdings überwog ihre Wut und Frustration. Deshalb ließ sie sich zu etwas hinreißen, das sie unter anderen Umständen niemals auch nur in Erwägung gezogen hätte.
Das Prasseln der Dusche war zu hören. Es verursachte bei Marie eine Gänsehaut, weil sie wusste, dass Ben oft darunter weinte. Sie lauschte. Bisher schluchzte er zum Glück nicht. Ging es bergauf mit ihm? Wohl eher nicht, sonst würde er sich nicht so oft waschen. Aber seelischen Schmutz konnte man nicht abschrubben, das wusste sie selbst nur allzu gut.
Auf Zehenspitzen schlich sie in Bens provisorisches Zimmer und schaute sich um. Seine neue Kleidung häufte sich unordentlich auf dem Stuhl und hing sogar über eine Ecke des Schrankes. Benutzte Teller, eine Müslischale und drei Gläser mit Colaresten türmten sich auf dem Bügelbrett.
Da lag es ja! Marie fischte sein Smartphone aus einem Tennisschuh, der vor seinem Bett lag, rang ihr schlechtes Gewissen nieder und schaute sich auf dem Gerät um.
Sie fand belanglose SMS von Julia. Viele SMS. Nur auf jede zweite oder dritte hatte Benjamin geantwortet. Man konnte glatt meinen, Julia wäre eine kleine Stalkerin gewesen, dachte Marie. Hatte Ben sich auf der Party verfolgt und bedrängt gefühlt und war so ruppig zu ihr gewesen, dass sie meinte, sie müsste seine Handgreiflichkeiten auf einem Foto festhalten?
Seltsamerweise entdeckte sie keine Nachrichten von Maik oder Denis. Mit seinen Freunden musste Ben sich doch am meisten getextet haben. Hatte er sie alle beseitigt? Es schien fast so. Sogar aus dem Gelöscht-Ordner hatte er sie entfernt, auffällig gründlich, für jemanden, dessen Zimmer wie ein Schlachtfeld aussah.
Als sie auf eine Nachricht von GeoGod stieß, rutschte ihr das Herz so stark in die Hose, dass sie sich auf die Bettkante setzen musste. Die SMS war vor Tagen von dem Online-Account abgeschickt worden, den er auf Julias Namen und Adresse angelegt hatte, kurz nachdem ihre Tante Heide von ihm angefahren worden war.
Mehrmals las Marie die Zeilen, denn die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Sie konnte nicht fassen, was da stand, was die Anweisung zu bedeuten hatte, was die Konsequenzen waren und welchen Verrat sie nach sich zogen.
GeoGod hatte Benjamin befohlen, sie, Marie, als Patin für sein Spiel anzuwerben.
„Mein Gott!“ Und Ben hatte den Befehl befolgt. Ohne ihr jedoch zu sagen, dass er es nicht aus freiem Willen tat. Stattdessen hatte er sie unter großer Geheimniskrämerei damals in sein Zimmer geholt und so getan, als würde er ausgerechnet sie und nur sie einweihen, weil sie sich nahestanden.
Dieser Judaskuss tat verdammt weh! Sie legte das Handy so rasch zurück in den Schuh, als hätte sie sich daran verbrannt.
Plötzlich fiel ihr wieder ein, was
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