Leiden sollst du
seinem Kopf aufs Kissen. Seine Achsel duftete herb nach dem Deo, das er nach dem Baden aufgetragen hatte. „Bist du das etwa nicht? Ihr seid nicht nur verwandt, sondern beste Freunde, dachte ich zumindest bisher.“
Als sie sich weiter zu ihm drehte, beschien das Licht der Nachttischlampe sie von hinten. Mit etwas Fantasie sah es aus, als trüge sie einen Heiligenschein. „Natürlich bin ich verärgert. Aber auch am Tag nach der Vokü-Party wusste Benjamin nicht mit Sicherheit, ob er nicht nur einen Horrortrip gehabt hatte oder ob Julia wirklich zu Tode gekommen war.“
Daniel schnaubte. „Dazu hätte er nur seine Freunde fragen brauchen.“
„Maik und Denis redeten wochenlang auf ihn ein, setzten ihn unter Druck und erpressten ihn damit, seinen Eltern zu stecken, dass er auf der Vokü-Party harte Drogen in der Bong konsumiert hatte.“
Durch die Lichtquelle wurde der Flaum auf ihrer Wange unterhalb des Ohrs sichtbar. Daniel hob seine Hand, um Marie dort zu streicheln wie früher, befürchtete jedoch, sie könnte das als Aufforderung zu mehr betrachten, und legte seinen Arm wieder ab. Feigling! „Also schwieg Ben.“
„Ich will nicht rechtfertigen, was er getan hat.“ Sie nahm das Buch und hielt es wie ein Schutzschild hoch. „Aber er war zutiefst schockiert über das, was seine Freunde Julia im Drogenrausch und Suff angetan hatten. Er fühlte sich regelrecht gelähmt, sagte er, er konnte nicht klar denken und ging kaum noch aus dem Haus. Alles fiel ihm schwer, meinte er, selbst das Atmen.“
„Er leidet nicht annähernd so, wie Julia Kranich gelitten hat“, sagte Daniel.
Ein dumpfer Knall war zu hören. Den Nachbarn unter ihnen musste etwas hingefallen sein.
„Als ihre Leiche am Rheinufer angespült wurde, kam alles wieder in ihm hoch und er durchlebte die quälende Achterbahn der Gefühle noch einmal. Er konnte nicht darüber sprechen, selbst wenn er gewollt hätte. Seine Zunge war schwer, als wäre sie mit Beton ausgegossen, so beschrieb er es, und der Schmerz in seinem Inneren machte klares Denken unmöglich.“
„Außerdem schwieg er, weil er befürchtete, selbst in den Jugendknast zu gehen, habe ich recht?“
„Das spielte sicherlich auch eine Rolle. Unter anderem fühlte er sich dem Rat Pack verpflichtet. Seinen Blutsbrüdern. Ein dämlicher Ehrenkodex.“ Sie griff das Buch mit beiden Händen, als wollte sie es in der Mitte durchreißen.
„Er hat sich mit den falschen Freunden verbündet.“
„Jungen wachsen zu Männern heran und werden zu Konkurrenten. Drogen verändern Menschen.“
Diagnosen auch , dachte er wehmütig. Vor einem Dreivierteljahr hätte er keinen Moment gezögert, Marie zu berühren. Er hatte kaum neben ihr liegen können, ohne nicht wenigstens sein Bein unter ihre Decke zu schieben oder sie in seine Arme zu ziehen. „Trotzdem hat Ben Denis in der Psychiatrie besucht. Warum?“
„Weil sie eine lange Freundschaft verbindet. Weil Denis Julia nicht absichtlich umgebracht hat. Und um ihm zu sagen, dass er zur Polizei gehen wird.“
„Wollte er sich etwa für diesen Termin Mut antrinken?“, fragte Daniel sarkastisch und runzelte zweifelnd seine Stirn.
„Oder seinen Kummer herunterspülen, damit sich endlich seine Zunge löste und er darüber reden konnte.“ Nachdenklich tippte sie mit dem Buchrücken gegen ihr Kinn.
„Ich werde mit Benjamin die Mordkommission aufsuchen, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wird.“ Er befürchtete, sie würde versuchen, ihn davon abzuhalten, weil es ihm unangenehm sein könnte, seine alten Kollegen wiederzusehen und dabei auf der falschen Seite des Verhörtisches zu sitzen, doch das tat sie nicht.
Stattdessen sagte sie: „Mach das. Ben ist bereit dazu. Er will endlich die Last dieses furchtbaren Geheimnisses loswerden, um nicht davon erdrückt zu werden.“
„Klingt wie ein Satz aus einem deiner Romane.“ Schmunzelnd zeigte er auf die Lektüre, die sie schon die ganze Zeit festhielt. Das Pflaster an ihrem Zeigefinger war neu. Sie musste sich geschnitten haben, vielleicht an einer Schere während ihrer Arbeit als Kostümbildnerin oder an einer Buchseite.
Eigentlich war Daniel ein Technikmuffel. Doch seit er einen Tablet PC besaß, hatte er sich einige E-Books heruntergeladen, die meisten zum Thema Querschnittslähmung.
Marie jedoch verweigerte sich in diesem Fall dem Fortschritt und kaufte ausschließlich Bücher. Viele Bücher! Da die Regalwand im Wohnzimmer bereits zum Bersten gefüllt war, legte sie die
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