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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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ausgelesenen Exemplare überall ab. Die zwei Stapel auf der Schlafzimmerkommode wuchsen immer höher. Die Hardcoversammlung auf dem Schuhschrank neben der Garderobe am Eingang nahm immer mehr Ablageplatz weg. Inzwischen türmten sich sogar Bildbände auf der Waschmaschine im Bad.
    Sie besaß sogar einen Stapel mit ungelesenen Romanen, den sie regelmäßig aufstockte, denn wenn er schrumpfte, bekam sie regelrecht Panik, nicht genug Lesestoff im Haus zu haben. So etwas wäre Daniel nicht im Traum eingefallen. Er lud sich runter, was er sofort lesen wollte, und nicht mehr.
    Auf ihrem Nachttisch lag immer ein Buch, auf seinem seit geraumer Zeit sein Tablet PC. Aber Daniel las dennoch lieber Online-Zeitungen und News-Seiten und schaute abends meistens fern, so war er nun mal.
    „Du wirst es nicht hören wollen, aber ich erzähle es dir trotzdem.“ Marie strich über den Einband des Exemplars in ihrer Hand wie über die Haut eines geliebten Menschen.
    Daniel bekam eine wohlige Gänsehaut. „Wovon sprichst du?“
    „Karins Geschichte.“
    „Wer zur Hölle ist Karin?“
    „Die Frau, die dieses Tagebuch verfasste, das später ein Verlag veröffentlichte.“
    Warum, fragte sich Daniel, wurde er das Gefühl nicht los, dass die Aufzeichnungen etwas mit ihm zu tun hatte?
    „Zwei Jahre lang schrieb sie ihre Gedanken und Gefühle auf, setzte sich so mit ihrer schwierigen Situation auseinander und erkannte, dass es okay war.“
    „Was war okay?“ Wollte er es überhaupt hören? Dieses Psychogequatsche löste seit den Gesprächen mit einem Seelenklempner in seiner Kindheit, nachdem er fast seinen Vater abgestochen hatte, bei ihm stets den Wunsch nach Flucht aus. Wie gut für Marie, dass er nicht so schnell aufstehen und wegrennen konnte.
    Begleitet vom Quietschen der Bettfedern setzte sie sich so, dass sie ihn ansehen konnte. „Erinnerst du dich an den Massenunfall auf der A31 im November 2011? Karin fuhr über die Münsterländer Autobahn. Nebelbänke erschwerten immer wieder die Sicht. Plötzlich sah sie die Massenkarambolage, die vor ihren Augen entstand. Wie sich später herausstellte, war sie durch den Nebel und einen einfachen Blechschaden zweier Limousinen, die die Fahrbahn blockierten, ausgelöst worden. Panisch trat Karin auf die Bremse, doch der Asphalt war nass und sie rutschte zur Seite weg. Da erfasste sie ein Großraumtaxi und schob sie in die verkeilten Autos hinein. Sie konnte nichts dagegen machen. Ihr Wagen wurde zusammengequetscht. Sie fühlte sich wie in einer Schrottpresse, so beschreibt sie es in ihren Aufzeichnungen. Ihr Becken und ihre Beine wurden an zahlreichen Stellen gebrochen und ihr Rückenmark wurde beschädigt, sodass sie ihren Unterkörper seitdem nicht mehr spürt.“
    Daniel zischte. Wusste er es doch! Er packte die Decke, um sie zurückzuschlagen und aufzustehen.
    Aber Marie neigte sich über ihn. „Wenn du nicht liegen bleibst, werfe ich mich auf dich wie eine Schlammcatcherin.“
    „Hm“, machte er und tat, als würde er überlegen. „Diese verführerische Aussicht macht mir die Entscheidung nicht leichter.“ Lächelnd legte er sich wieder auf den Rücken. Sein altes Ich blitzte auf und wollte vorschlagen, Bens Nutella als Schlammersatz zu nehmen, sein neues Ich jedoch verbot ihm diese schlüpfrige Anspielung.
    Marie bohrte ihm ihren Zeigefinger in die Schulter. „Karin ...“
    „Müssen wir darüber sprechen?“ Stöhnend rieb er sich über die Stirn.
    „... schreibt darüber, wie sie sich zurück ins Leben kämpfte. Sie arbeitet heute wieder als Fremdsprachensekretärin und hat einen Freund.“
    „Lass mich raten? Er hat auch einen Rolli.“
    „Tut mir leid, dich in deinen Vorurteilen nicht bestärken zu können“, sagte Marie in einem ironischen Ton, den sie von ihm gelernt haben musste. „Karin ist wieder glücklich, beteuert sie, vielleicht sogar zufriedener als zuvor, denn sie hätte bei dem Massencrash weitaus mehr verlieren können als die Fähigkeit zu gehen.“
    „Erspar mir jegliches Pathos, bitte.“ Manchmal war es schwerer weiterzuleben, als zu sterben. Genervt von seinem eigenen Pessimismus schloss er kurz seine Augen und massierte mit zwei Fingern seinen Nacken, der vom Anschieben der Räder und dem ständigen Sitzen stark beansprucht wurde. Er wollte nicht undankbar sein. Ihm ging es nicht schlecht und er war keineswegs lebensmüde. Er hatte nur keine Lust, sein Gefühlsleben zu analysieren, weil er sich dann verletzlich vorkam.
    „Karin berichtet am Ende

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