Leiden sollst du
des Buchs über ihre Verlobung mit Peter. Sie wundert sich, dass sie eine wundervolle Partnerschaft führen, während viele ihrer“, Marie malte Anführungszeichen in die Luft, „ gesunden Freunde sich getrennt haben oder sogar geschieden sind.“
„Vielleicht sind sie das in ein paar Jahren auch.“
Sachte boxte Marie ihn. „Manche verstehen nicht, was Peter an ihr findet, wo er doch kein normales Sexualleben mit ihr führen kann.“
Daniel horchte alarmiert auf. Jetzt kam sie zum Kern der Geschichte und zum Zweck dieser Unterhaltung. Unruhig schob er das Kissen unter seinem Kopf zusammen. Aus dem Augenwinkel heraus betrachtete er Marie. Wie wunderschön sie mit ihrem wirr abstehenden krausen Haar aussah! Im Alltag lief sie immer so zwanghaft ordentlich herum, dass er ihr abends, wenn sie nebeneinander auf der Couch saßen, gerne durch ihren Schopf wuschelte. Dann erinnerte sie ihn an die Abbildung von Struwwelpeter auf dem Kinderbuch, aus dem seine Mutter ihm früher vorgelesen hatte. Mit ihrem kleinen runden Gesicht, ihren großen grünen Augen und der Stupsnase sah sie wie eine Porzellanpuppe aus, so zerbrechlich, dass sie seinen Beschützerinstinkt weckte. Aber konnte er sie auch noch in seinem Zustand beschützen?
Ihre Worte rissen ihn aus seinen Gedanken: „Karin und Peter führen trotzdem ein schönes Liebesleben. Sie streicheln sich stundenlang, küssen sich leidenschaftlich und sein Orgasmus ist auch für sie erfüllend.“
„Das genügt ihr?“ Daniel redete sich ein, dass ihre Augenringe nur Schatten waren, die das Licht der Nachttischlampe warf.
„Nähe und Sinnlichkeit sind ihnen wichtiger als Matratzensport.“
Er stemmte sich auf seinen Ellbogen ab und drückte sich hoch. „Behaupte jetzt nicht, ich hätte dich nie verwöhnt.“
„Das tue ich nicht.“ Erneut hielt sie das Buch hoch. „Romantische Abendessen bei Kerzenschein, Bootsausflüge, miteinander flirten wie am ersten Tag, ein Glas Wein zusammen trinken und einfach nur den Sternenhimmel betrachten, eng aneinandergeschmiegt, das alles gewinnt laut Karin an Stellenwert.“
Kopfschüttelnd ließ er seine Schultern wieder hinab. „Es ist nur ein Ersatz.“ Ein Substitut konnte niemals so gut wie das Original sein. Aber was gab es für eine Alternative? Abgesehen davon, dass er Angst hatte, Marie zu verlieren, indem er sie auf Abstand hielt, wollte er selbst auch nicht ganz auf Berührungen verzichten. So weit, so gut, jetzt musste er sie nur noch zulassen können.
„Ich fühle mich immer noch zu dir hingezogen.“ Plötzlich neigte sie sich zu ihm herab. Ihr Gesicht schwebte knapp über seinem. Sie schaute ihm kurz in die Augen, als wollte sie stumm um seine Zustimmung bitten, und küsste ihn auf den Mund. Nicht lange, aber es war kein rein freundschaftlicher Kuss, auch kein flüchtiger, wie ein Paar ihn sich gab, wenn es morgens aus dem Haus ging, dafür war er eine Spur zu fest und zu feucht. Dann setzte sie sich wieder auf. „Jetzt musst du wieder lernen, dich selbst zu lieben.“
Autsch, das tat weh. Sie hatte ja recht. Er hatte kein Problem mit ihr, sondern mit sich selbst. Nicht nur, dass sein Körper nicht mehr voll funktionstüchtig war, was sein Selbstbewusstsein ins Wanken gebracht hatte, sondern er war in den letzten Monaten auch zu einem reinen Werkzeug geworden. Die Ärzte im Krankenhaus und in der Rehaklinik hatten ihn nackt gesehen, ihn angefasst, ohne auf Schamgrenzen oder Intimsphäre zu achten, sodass Daniel sich aus Verlegenheit von seiner Hülle distanziert hatte. Sein Körper war nicht mehr gewesen als der Rollstuhl unter seinem Hintern – ein Arbeitsgerät. Jetzt musste er wieder lernen, dass er zu ihm gehörte und dass er nicht sein Feind war.
Sie legte ihren Kopf neben seinen auf sein Kissen, sodass ihre Schulter die seine berührte, und las ihm einige Passagen aus Karins Tagebuch vor. Der Text berührte Daniel unerwartet so sehr, dass er nasse Augen bekam. Er erkannte sich in den Zeilen wieder. Heftig blinzelte er seine Tränen weg. Die Scham darüber, dass Marie um ihre Ehe kämpfte und er nicht, wuchs. Ohne sie anzublicken, schob er seinen Arm unter ihren Kopf.
„Ich muss dir etwas zeigen“, sagte er leise, nachdem sie das Buch zugeklappt hatte.
Mit gerunzelter Stirn sah sie ihn an.
„Ich hatte es schon viel früher vor, aber die Situation war nie passend.“ Das letzte Mal, dass er ihr dieses besondere Geschenk hatte machen wollen, hatten ihre Eltern ihn mit ihren Kommentaren in den Boden
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