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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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zum Ehemann hast, dann soll er wenigstens gut aussehen.“
    Aus einem Impuls heraus wuschelte sie ihm durch seine Haare. Ihre Tränen trockneten ungeweint.
    „Hey“, machte er, wehrte ihre Hände ab und zupfte an seiner Frisur herum.
    „Nicht deine Haare machen dich attraktiv, sondern dein Lachen. Du solltest es öfter zeigen. Auch wer im Rollstuhl sitzt, hat das Recht, das Leben zu genießen.“ Bevor er etwas erwidern konnte, legte sie ihre Hände an seine Wangen, hielt ihn fest und küsste ihn gefühlvoll. Er schmeckte, trotz seiner Brummigkeit, noch immer köstlich. Nach Liebe, Heimat, Familie.
    „Wofür war der?“, fragte er, nachdem sie sich wieder von ihm gelöst hatte.
    Sie trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche und setzte sich wieder. „Muss es für jeden Zuneigungsbeweis einen Grund geben?“
    Er leckte über seine Lippen, als wollte er mit der Zunge das Echo ihres Kusses einfangen.
    Familie, hallte ihr eigener Gedanke in ihr nach. Unweigerlich dachte sie an Benjamin und wie seltsam er sich am Vormittag verhalten hatte.
    Plötzlich hatte sie eine Idee. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, Daniel aus seinem Schneckenhaus herauszulocken und seine Lust auf das Leben neu zu wecken. Er war immer ein engagierter Polizist gewesen. Wenn sie es schaffen konnte, seinen Spürsinn zu wecken, sah sie eine reelle Chance, dass sein Kokon aufbrach.
    „Ich mache mir Sorgen um Ben.“ Das entsprach der Wahrheit, auch wenn es Mittel zum Zweck war, das in diesem Moment zur Sprache zu bringen, weil sie wusste, dass Daniel ihren Cousin auch gut leiden konnte.
    Er setzte sich gerade auf. „Was meinst du?“
    „Heute auf dem Friedhof machte er auf mich den Eindruck, in einer Art Schock zu sein.“
    „Wundert dich das? Eine gute Freundin von ihm ist auf tragische Weise verstorben.“
    „Aber er hat nicht einmal geweint. Seine Haltung war seltsam.“ Wie der Rest der Bestattung. Zu viele Details, die nicht so waren, wie sie sein sollten, rief sie sich in Erinnerung, als würde etwas in der Luft hängen, etwas Unausgesprochenes, Ungeklärtes. Einzeln gesehen schienen sie unbedeutend, aber in der Summe bereiteten sie Marie Unbehagen. „Ich konnte sein Verhalten nicht deuten. Entweder stand er kurz davor, in tausend Stücke zu zerbrechen, oder vor Wut zu explodieren.“
    Daniel zuckte mit den Achseln. „Jeder geht anders mit dem Tod um.“
    „Und wenn es kein natürlicher war?“, warf sie geschickt ihr Netz aus.
    „Was soll das denn heißen?“
    „In den Nachrichten erwähnte der Sprecher Gerüchte.“
    „Viele können nicht begreifen, dass auch junge Menschen sterben, und malen sich die ungeheuerlichsten Dinge aus, um mit ihrer Trauer und ihrem Unverständnis umzugehen.“
    Sie griff nach dem Verschluss und knibbelte das Frischesiegel ab. „Von Hinweisen bei der Obduktion auf ein mögliches Fremdverschulden war die Rede.“
    „Dann gäbe es eine Ermittlung, aber die gibt es nicht.“
    „Bist du sicher?“ Eindringlich sah sie ihn an.
    Seine Stirn runzelte sich und er legte den Kopf schief. „Die hätten sie in den News doch auch erwähnt.“
    „Nur, wenn sie davon wüssten. Möglicherweise ist dieses Detail noch nicht zur Presse durchgesickert oder die Polizei hat sie gebeten, die Info zurückzuhalten.“ Sie atmete bis ins Zwerchfell ein. „Eventuell wurde das Mädchen ins Wasser gestoßen.“
    Daniel rieb über seine Unterarme. „Julia war betrunken.“
    „Das eine schließt das andere nicht aus“, warf sie ein. Sie stand auf und schloss das Küchenfenster. Bevor sie wieder Platz nahm, reichte sie ihm seine Fleecejacke, die über der Rückenlehne seines Rollstuhls hing.
    „Danke“, sagte er und zog sie an. „Komasaufen ist leider weit verbreitet unter den Jugendlichen.“
    „So war Julia nicht.“ Energisch schüttelte sie ihren Kopf. Ein krauses mittelblondes Haar löste sich und segelte herab. Marie wischte es von der Tischplatte. „Das passte nicht zu ihr.“
    „Du kanntest sie doch gar nicht richtig.“ Er ließ seine Hände auf die Armlehnen seines Rollstuhls fallen, sodass es klatschte. „Vielleicht hatte sie an dem Abend Streit mit ihren Eltern gehabt oder Liebeskummer.“
    „Wegen Ben? Vielleicht war er deshalb so bestürzt, weil der Unfall wegen ihm passierte“, gab sie zu bedenken. „Aber das erklärt noch nicht, warum ihr Leichnam von der Staatsanwaltschaft so spät zur Beisetzung freigeben wurde.“
    „Es kommt auch immer darauf an, wie voll die Kühlschränke in der

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