Leiden sollst du
Verletzt? Wie stark? Das klang nicht gut, gar nicht gut. Noch mehr Kummer für Benjamin. Wie viel konnte der Achtzehnjährige ertragen?
In letzter Zeit passierten schreckliche Dinge in Maries Familie. Viele schreckliche Dinge. Auffällig viele.
4
Daniel wagte diesen Schritt, der ihn unglaublich viel Überwindung kostete, nicht nur für Benjamin, sondern in erster Linie für Marie.
Für ihn war sie die tollste Frau auf der Welt und hatte etwas Besseres als ihn verdient. Das war schon vor seinem Sturz der Fall gewesen, aber nun, da er im Rolli saß, erst recht. Warum sie bei ihm blieb, war ihm schleierhaft. Es gab Momente, da hatte er geglaubt, sie würde ihn nur nicht verlassen, weil ihm das den Todesstoß gegeben hätte, oder um ihren Eltern gegenüber, die lieber einen Mann mit weniger ruppigen Umgangsformen und dafür mehr Zaster an ihrer Seite gesehen hätten, nicht klein beizugeben. Inzwischen wusste er, dass sie nicht aus Mitleid durchhielt. Wenn es so wäre, würde sie nicht wie eine Löwin um ihre Ehe ... um ihn kämpfen.
Sie hatte es verdient, dass er ihr diesen Gefallen tat. Außerdem hatte sie ihm ein Rätsel aufgegeben und jetzt gab sein Kopf nicht eher Ruhe, bis er es gelöst hatte.
Das hatte sie absichtlich getan, natürlich, sie kannte ihn gut. Trotzdem konnte er sich nicht dagegen wehren, ständig an die Polizisten in Zivil zu denken, die sich auf Julia Kranichs Beerdigung unter die Trauernden gemischt hatten. Warum waren sie dort gewesen?
Hatten sie jemanden gesucht? Jemand Bestimmtes? Oder nur beobachtet, ob sich einer der Trauergäste auffällig verhielt? Wieso sollten sie das tun, wo Julia doch aus eigener Schuld in den Rhein gestürzt war?
Das machte alles keinen Sinn, ebenso wenig die verzögerte Freigabe ihrer Leiche. Daniel hätte das für leeres Gerede gehalten, wenn seine Kollegen nicht auf der Bestattung gewesen wären.
Also hatte er Tomasz Nowak, mit dem er früher oft nach Dienstschluss ein Kölsch gezischt und Sport getrieben hatte, angerufen und sich mit ihm im Hard Rock Café verabredet. Heimlich, hinter Maries Rücken. Zum einen wollte er nicht unnötig die Pferde scheu machen, sondern erst einmal hören, ob und was Tom ihm verriet.
Zum anderen wusste er nicht, ob er sich tatsächlich dazu überwinden konnte, mit dem Auto, das sein Schwiegervater für ihn hatte behindertengerecht umbauen lassen, zu fahren. Rainer Bast hatte das bestimmt nicht aus reiner Nächstenliebe getan. Er konnte Daniel nicht einmal sonderlich gut leiden, was er ihn bei Treffen auch spüren ließ. Wieso also? Daniel wurde das Gefühl nicht los, dass Rainer eines Tages einen Gefallen dafür einfordern würde, einen, der Daniel vor die Entscheidung seines Leben stellen würde und entweder mit Marie oder seinem Job als Kriminalkommissar zu tun hatte.
Bisher hatte er mit dem Wagen nur einige Runden auf dem Verkehrsübungsplatz gedreht, aber die Fahrt zur Gürzenichstraße klappte besser als erwartet. In der Innenstadt einen Parkplatz zu finden war prinzipiell nicht einfach, daher hatte er, nach fünf erfolglosen Runden durch das Viertel, sein Auto auf dem für Behinderte abgestellt. Als er ausstieg, guckte er weder nach rechts noch nach links, da er es nicht ertrug, angegafft zu werden. Zudem kam er sich wie ein Kind vor, weil er zu allen ständig aufgucken musste.
Aber irgendwann musste er ja selbstständig werden. Die eigenen vier Wände machten ihn langsam kirre. Seine Beine waren kaputt, sein Kopf musste es nicht auch noch werden.
„Stell dir vor, die anderen sind nackt“, murmelte er und machte sich auf den Weg zum Lokal. Am liebsten wäre er umgedreht. Seinen Rolli schob er immer langsamer an, nicht etwa weil seine Kräfte nachließen, sondern weil sein Herz härter in seinem Brustkorb pochte, je näher er dem Eingang kam.
Ihm kam eine alte Frau mit einer Gehhilfe auf dem Bürgersteig entgegen. Unsicher blieb er stehen. Er schaute nach einer Möglichkeit, Platz zu machen, um sie vorbeizulassen, doch er hatte noch keine Erfahrung darin, eine Bordsteinkante zu überwinden, und zögerte. Was wäre, wenn er umfiel? Wie würde er wieder in seinen Sitz kommen? Er nahm sich vor, das zu üben. Die Möglichkeit, beschämt und hilflos auf dem Asphalt zu liegen, lähmte ihn.
Die betagte Dame grüßte ihn mit einem Nicken, trat auf die Straße und setzte dort ihren Weg fort.
„Na bravo. Selbst sie ist schneller als ich.“ Zähneknirschend schaute er ihr hinterher und erwog ernsthaft, umzudrehen
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