Leiden sollst du
Rechtsmedizin sind.“
„Glaubst du ernsthaft, sie würden den Leichnam einer Jugendlichen, die verschwand und tot wieder auftauchte, zurückstellen?“ Marie lockerte ihren Chiffonschal. Das Gespräch erhitzte nicht nur ihr Gemüt. „Die lange Zeitspanne vom Fund ihrer Leiche bis zur Bestattung spricht dafür, dass ihre Leiche nach der Obduktion für weitere mögliche Untersuchungen im Rahmen einer Ermittlung zurückgehalten wurde.“
„Ja, schon“, gab er zu und rieb gedankenversunken mit dem kleinen Finger über seine Unterlippe.
„Außerdem waren Polizisten in Zivil bei ihrer Beisetzung anwesend.“ Endlich hatte sie seine Aufmerksamkeit und legte sofort nach: „Benjamin war auch auf der Party gewesen, bei der Julia voriges Jahr verschwand.“
Eine Pause entstand, die so laut war wie das abrupte Ende eines Orchesterstückes nach dem letzten Paukenschlag. Bestürzt starrte Daniel sie an. „Ben?“
Marie nickte. „Deine Kollegen wissen sicherlich mehr.“ Ganz bestimmt sogar, da das KK 11 bei jeder gefundenen Leiche gerufen wurde, um einen Mord auszuschließen. Oder ihn festzustellen.
„Ich werde sie nicht fragen.“
„Womöglich hat Ben von den Gerüchten gehört und ist deshalb verunsichert. Wenn ich ihm sagen könnte, dass nichts dran ist, geht es ihm vielleicht besser.“
„Ich weiß genau, was du vorhast.“ Er klemmte die Wasserflasche zwischen seinen Oberschenkeln ein, schob die Räder seines Rollstuhls an und fuhr aus der Küche heraus.
Marie sprang auf und folgte ihm. „Ich dränge dich nicht dazu, wieder bei der Mordkommission zu arbeiten, sondern bitte dich nur, wegen Julia Kranich nachzuhorchen.“
„Ja, sicher.“ Müde lächelnd durchquerte er das Wohnzimmer. „Über laufende Ermittlungen darf mir sowieso niemand eine Auskunft geben.“
„Sie sind immer noch deine Kollegen, du bist nur im Krankenstand.“ Marie ignorierte den missbilligenden Laut, den er von sich gab. „Du bist doch immer mit allen gut ausgekommen.“
Kraftvoll stieß er die Räder an. „Nein!“
„Tu es für Ben.“
„Ich war seit meinem Sturz nicht mehr im Polizeipräsidium und werde auch jetzt nicht dorthin gehen. Ich brauche kein Mitleid! Es macht mich nicht wieder gesund und es hilft mir auch sonst nicht. Im Gegenteil, ich fühle mich dadurch noch schlechter.“ Tief atmete er ein, doch ehe sie etwas erwidern konnte, fuhr er aufgeregt fort: „Das Bedauern in den Blicken, diese gequälten Gespräche, bei denen man merkt, dass der andere mit der Situation überfordert ist und am liebsten woanders wäre, der vorgeschobene Grund, wieder an die Arbeit zu müssen, die verlogenen Abschiedsworte Wir sollten uns mal auf ein Kölsch treffen und dann das Aufatmen, das ich förmlich spüre, wenn ich endlich wegfahre. Das alles brauche ich nicht. Es tut, verdammt noch mal, weh!“
Für ihn war die Diskussion damit offenbar beendet. Denn er nahm seinen Tablet PC und fuhr auf die Dachterrasse hinaus. Doch statt zu lesen, schaute er nachdenklich zum Himmel.
Eine Weile beobachtete Marie ihn mit einem schlechten Gewissen, weil sie seinen Schmerz herausgeschält hatte. Dann ging sie ins Badezimmer, um heißes Wasser in die Wanne einlaufen zu lassen.
An diesem Abend sprachen sie nicht mehr viel. Sie saßen auf dem Sofa und schauten einen Fernsehkrimi. Normalerweise regte sich Daniel gerne über Fehler in den Ermittlungen auf, aber diesmal schwieg er.
„Ich bin müde“, behauptete er. Mit dieser bedrückenden Stimmung gingen sie früh zu Bett.
Doch als sie morgens am Frühstückstisch saßen und Marie Kaffee eingoss, sah sie, wie er sein Notebook anschaltete und den Namen Julia Kranich in eine Suchmaske eingab. Verschmitzt lächelte sie hinter seinem Rücken.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Marie schrak so stark zusammen, dass ihr beinahe die Glaskanne aus der Hand fiel. Rasch drehte sie sich um, damit Daniel nicht merkte, dass sie mitbekommen hatte, was er tat, denn sie wusste, wann sie ihn in Ruhe lassen musste.
Sie stellte die Kanne weg, ging ins Wohnzimmer und nahm das Mobilteil aus der Halterung auf dem Beistelltisch. „Marie Zucker.“
So aufgeregt hatte sie ihre Mutter schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört. Normalerweise sprach sie bemüht gelassen, ganz die Dame, die sie verkörpern wollte. Jetzt allerdings keuchte sie bei jedem Wort. „Heide wurde von einem Auto erwischt. Es sieht böse aus. Es war Fahrerflucht.“
Entsetzt schlug Marie die Hand auf ihren Mund. War ihre Tante tot?
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