Leiden sollst du
wie im Schraubstock hielten, aß sie ein Stück Brötchen absichtlich schmatzend. „Benjamin verbrachte seine Freizeit meistens mit seinen Freunden Maik und Denis. War er nicht mit ihnen unterwegs, traf man ihn für gewöhnlich in seinem Zimmer an. Er saß vor dem Computer, döste auf dem Bett und hörte dabei Musik, was Teenager eben so machen.“
„Besuchte er Jugendeinrichtungen?“
„Glaube nicht. Benjamin war auch nicht der Typ, der Mitglied in einem Verein war. Er hasste Sport, spielte kein Instrument und ...“ Plötzlich hatte sie eine Idee. „Dancemania!“
Er trank einen Schluck Mineralwasser und schaute Marie über die Flasche hinweg an. Seine Stirn legte sich in Falten.
Rasch würgte sie den Bissen herunter, damit er sie besser verstand, weil ihre Kehle vor Aufregung wie zugeschnürt schien. „So heißt die Tanzschule, in der sich Ben und Julia kennenlernten.“ Ihr Nacken kribbelte und ihr Magen rumorte, sodass sie das restliche Brötchen zurück in die Papiertüte steckte.
„Dort begann alles, na klar!“ Daniel riss seine Augen auf. „Nicht in der Volksküche, wie wir zuerst dachten.“
Ärgerlich, weil sie nicht früher darauf gekommen war, presste Marie kurz ihre Kiefer so fest aufeinander, dass es wehtat. „Hätte Benjamin Julia dort nicht getroffen, wäre sie nie zur Party nach Porz gefahren, um ihn mit ihrem aufreizenden Outfit zu beeindrucken, Maik wäre nicht eifersüchtig geworden ... Halt, nein, das ist nicht das passende Wort, er war vielmehr neidisch, denn es ging ihm nicht um das Mädchen, sondern um Ben.“
Ein Summen entstand in ihrem Schädel, das immer lauter wurde. Sie war auf der richtigen Spur, das spürte sie einfach.
„Maik hätte nicht befürchtet, dass Benjamin ihn als Womanizer des Dreiergespanns ablösen könnte, und Denis hätte nicht bei den Misshandlungen mitgemacht, um Bens Stellung in der Hierarchie des Rat Packs einzunehmen und die Nummer zwei hinter Maik zu werden. Dieses pubertäre Gerangel kostete dem Mädchen am Ende ihr Leben.“ Daniel wollte etwas sagen, doch sie war schneller: „Und das konnte nur geschehen, weil Ben mit Julia tanzte.“
„Scheiße!“ Hektisch schraubte er den Verschluss zu, warf das Wasser auf den Rücksitz und startete den Motor.
Er fuhr wie der Teufel, nahm Abkürzungen über Supermarktparkplätze, öffentliche Rasenflächen und verwaiste Schulhöfe. Marie staunte nicht schlecht, wie gut er inzwischen mit der Handschaltung zurechtkam, und sorgte sich gleichzeitig, sie könnten einen Unfall haben.
Wohlbehalten kamen sie an der Tanzschule an. Daniel quetschte den Wagen in eine enge Parklücke. Kaum erstarb der Motor, riss er auch schon die Tür auf. Auch Marie flog aus dem Auto, um ihm seinen Rolli anzureichen.
Als sie schließlich vor dem Studio standen, wusste Marie nicht, ob sie sich darüber freuen sollte, dass Dancemanie offensichtlich pleite war und bereits seit Längerem geschlossen hatte, oder ob sie resignieren sollte. Bei einem Tanzlehrer, zu dem er Vertrauen entwickelt hatte, konnte er nicht untergeschlüpft sein, denn Ben kannte wohl kaum seine Privatadresse. Aber vielleicht versteckte er sich in den verlassenen Räumen. Noch war diese Spur warm, wie Daniel es ausdrücken würde, aber sie war ein wenig abgekühlt.
Marie drückte ihr Gesicht an die Scheibe des Schaufensters, das mit Zeitungspapier tapeziert worden war, und las das Datum der Ausgabe. „Juli dieses Jahres. Anscheinend haben sie die Kurse bis Anfang der Schulferien durchgezogen und dann dichtgemacht.“
„Hier gibt es sogar eine Rampe“, sagte Daniel, der vor den Eingang rollte. Über die linke Hälfte der zweistufigen Treppe war ein breites, dickes Brett angebracht und am Boden befestigt worden. Die Konstruktion sah nicht sonderlich professionell aus, aber sie erfüllte ihren Zweck und machte einen stabilen Eindruck.
Mit ihrem Zeigefinger tippte Marie gegen das Glas, hinter der ein verblasstes Werbeposter hing. „Sie boten sogar Kurse für Rollstuhlfahrer an.“
„Saßen dabei alle mit ihrer Krüppel-Harley im Kreis, es wurde Die Hände zum Himmel gespielt und alle streckten ihre Arme in die Höhe, weil sie so viel Kontrolle über ihre Beine hatten wie über den Mond?“ Daniels Haare waren so nass, dass sie eng am Kopf anlagen. Tropfen rannen ihm in die Augen, er blinzelte sie fort.
Genervt von seinen sarkastischen Kommentaren verdrehte sie ihre Augen. Sie wollte ihm gerade eine passende Antwort geben und ihn auf die Paralympics
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