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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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sich vor einen Zug zu werfen.
    Marie kramte in ihrer Handtasche, zog das Pfefferspray hervor und betrat das Haus. Es ärgerte sie, dass jeder ihrer Schritte knirschte, da der Boden neben Müll und Fäkalien auch mit Scherben bedeckt war. Viel zu laut!
    Mit heftig pochendem Herzen blieb sie stehen. Die Stille zerrte an ihren Nerven. Nervös spähte sie in den Raum gegenüber der Theke. Nichts. Der anhaltende Regen fraß an dem Gebäude, als wollte er es sich einverleiben. Eindringende Feuchtigkeit malte ein Gemälde aus schwarzen Flecken auf die Wand neben dem Eingang. Es roch nach nassem Hund.
    Marie hob ihr Halstuch über ihren Mund und ging mit erhobenem Spray weiter. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, um weniger Krach zu machen.
    Bei ihrem letzten Besuch war die Atmosphäre schon gruselig gewesen, diesmal empfand sie echte Angst. Wie sollte sie sich verhalten, wenn Kranich aus einer dunklen Ecke sprang?
    Ihm Pfeffer in die Augen sprühen und weglaufen? Wäre Benjamin, sollte er sich überhaupt in Markus’ Hand befinden, dann nicht endgültig verloren? Bis Marie die Polizei gerufen hätte und Daniels Kollegen kämen, wäre ihr Cousin längst tot. Aber bei einem Kampf hätte sie wohl kaum eine Chance.
    Plötzlich fragte sie sich, was sie hier überhaupt tat. Das war doch Wahnsinn!
    Ein Gedanke nagte an ihr. Es war vielmehr eine Frage, die augenblicklich ihre Schuldgefühle weckte. Sollte es zu einer Konfrontation mit Kranich kommen, würde sie wirklich nach Daniel rufen? Was konnte ein Rollstuhlfahrer schon gegen einen Angreifer ausmachen? Marie hatte Markus auf Julias Beerdigung gesehen. Er war groß, kräftig und hatte den Eindruck hinterlassen, als würde er ohne zu zögern jedem eine reinhauen, der ihm blöd kam. Selbst einer Frau?
    Stöhnend blieb sie kurz stehen, ignorierte tapfer das Zittern ihrer Beine, weil sie daran dachte, dass er mit Corinna Backes auch kein Erbarmen gehabt hatte, und ging weiter.
    Als Daniel gesagt hatte, sie seien ein Ermittlerteam, war das wie Balsam für ihre Seele gewesen, weil die psychischen Belastungen der Querschnittslähmung sie beinahe getrennt hatten. Doch nun wurde ihr bewusst, dass ihr Team aus einer Frau und einem Rollifahrer bestand.
    Kopfschüttelnd blieb sie vor dem Raum, in dem sie die Ratten gefunden hatten, stehen. Sie konnte ihre lächerliche Waffe kaum ruhig halten, weil sie befürchtete, Ben ebenso abgeschlachtet vorzufinden.
    Bange schaute sie in das Zimmer hinein. Und atmete erleichtert aus. Es war leer. Bis auf die armen Tiere, die immer noch so lagen wie beim letzten Besuch. Maden krochen über die kleinen Kadaver. Der aufgeschlitzte Körper der Mutterratte sah seltsam flach aus, wie eine Handpuppe, die nur aus Fell mit einem Kopf bestand. Ihre Föten war nur noch Flecke auf dem Betonboden.
    Bald würde die Polizei die Tierleichen finden, wenn sie den Tatort noch einmal gemeinsam mit Ben abgingen und er ihnen haargenau schildern musste, was sich in der Nacht, als Julia umkam, geschah.
    Plötzlich zerbrach etwas auf dem Korridor. Maries Nackenhaare stellten sich auf.
 

40
     
    Sie flog herum. Das Blut pulsierte unangenehm in ihren Schläfen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Überreizt blinzelte sie in die Dunkelheit, die der Regen über das Haus legte, denn sie sah niemanden. Aber da musste jemand sein! Sie hatte ihn gehört.
    Bitte, lass es Gully sein , betete sie. Doch im Grunde erwartete sie Kranich oder die Teenager, die sie in die Tiefgarage gejagt hatten, oder eine andere kranke Seele, die nirgends hingehörte und deshalb an diesem Ort, der nach Verwesung stank, Schutz suchte.
    „Beruhige dich. Mein Bock ist nur über eine Latte gefahren. Hier sieht’s aus, als hätte ein Spinner eine Holzkiste zerschlagen.“ Daniel fügte ein wenig vorwurfsvoll hinzu: „Du solltest doch auf mich warten!“
    Nun, da sie tiefer blickte, machte sie ihn endlich im Halbdunkeln aus. Sie hatte ihn nur nicht gesehen, weil sie nach einer stehenden Person gesucht hatte. „Ich befürchtete, du würdest nicht hineinkommen können, weil die Terrasse nicht eben mit dem Garten abschließt.“
    „An einer Seite lag so viel Erdreich und Müll, dass ich beides zusammen als Rampe nutzen konnte. Leider stellt die Treppe ins Obergeschoss dagegen ein unüberwindbares Hindernis für mich dar.“ Er klang zerknirscht.
    „Ich schau nach, ob Benjamin dort ist.“
    „Pass auf dich auf.“ Als sie an ihm vorbeischritt, hielt er ihr Handgelenk fest. „Es tut mir

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