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Leiden sollst du

Leiden sollst du

Titel: Leiden sollst du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Wulff
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die Markus aufhalten konnte, war ein Querschnittsgelähmter, der nicht mehr als eine Stabtaschenlampe zur Verteidigung zur Verfügungen hatte.
    So denkst du doch nicht, wahr? , durchschaute Daniel ihn und presste seine Kiefer aufeinander, aber du irrst dich. Er hatte seinen Chopper, den er als Rammbock oder Walze einsetzen konnte, und seine Fäuste funktionierten genauso gut wie vor seinem Unfall, was auch für seinen Kopf galt.
    Er musste Zeit gewinnen, musste Kranich ablenken, bis er eine Möglichkeit fand, ihn aufzuhalten ... oder Marie es schaffte, unbemerkt ihr Pfefferspray aus ihrer Umhängetasche zu nehmen, denn sie tastete sich im Zeitlupentempo vor und blinzelte, um Daniel zu verstehen zu geben, was sie vorhatte.
    Die beiden Oberlichter hinter Kranich waren gekippt. Die kühle Luft, die hereindrang, roch feucht. Das Prasseln des Regens nahm zu, als wollte er die Situation mit einer dramatischen Melodie unterlegen. Der Rhythmus wirkte sich auf Daniels Herzschlag aus. Sein Puls raste unangenehm und machte ihn zappelig.
    Um sich zu beruhigen und nicht die Kontrolle über seine Nervosität zu verlieren, biss er sich von innen auf die Wange. Für Sekunden konzentrierte sich alles in ihm auf den Schmerz. Als dieser verging, nutzte Daniel die gebündelten Gedanken, um einen Plan zu schmieden. Er konnte Kranich nur an den Hörnern packen, wenn er ein emotionales Thema ansprach, etwas, das ihn berührte und sein Interesse an Marie für den Moment verringerte.
    Leise wimmerte Benjamin, sodass Daniel ihn aus dem Augenwinkel heraus ansah. Kranich wollte sich an dem Jungen rächen, so viel stand fest. Monatelang ließ er ihn leiden, nur darauf wartend, dass er die Rache an den anderen vollendet hatte und Ben volljährig wurde. Heute sollte seine Vergeltung in Bens Tod gipfeln. Er hatte diesen ganzen kranken Zirkus nur aufgrund seiner persönlichen Vendetta inszeniert. Hier und heute in der Tanzschule, wo sich Ben und Julia kennenlernten, fand das große Finale statt.
    Daniel sprach selbstbewusst und laut, um seinem Gegner zu signalisieren, dass er sich nicht vor ihm fürchtete. „Sie haben Ihre Schwester über alles geliebt, nicht wahr?“
    „Ich liebe sie immer noch“, schrie Markus aufbrausend, als wollte er nicht wahrhaben, dass sie auf dem Westfriedhof unter der Erde lag und verrottete.
    „Sind Sie eifersüchtig auf Benjamin?“ Kaum merklich schob Daniel seinen Rolli einige Zentimeter näher an ihn heran.
    Kranich kniff seine Augen zusammen. „Was soll der Scheiß?“
    „Julia war in Ben verschossen“, wagte sich Daniel weiter vor. „Wollten Sie Ihre Schwester ganz für sich alleine haben?“
    „Wir hatten kein ... wir haben nicht ... das ist doch pervers!“ Er verstärkte den Druck auf Maries Kehle, worauf sie die Hand – leider ohne Reizstoffsprühgerät – aus ihrer Tasche nahm und an seinem Arm zog, doch er reagierte nicht einmal darauf, sondern starrte Daniel an. „Wag es ja nicht, Julias Ehre in den Schmutz zu ziehen. Unsere Liebe war rein! Sie war alles, was ich auf der Welt hatte.“
    Es fiel Daniel unglaublich schwer, nicht vorzupreschen und sich auf ihn zu stürzen, sondern Ruhe zu bewahren. Der Anblick von Maries gerötetem Gesicht war, als würde jemand ein Messer in sein Herz stechen. Schweiß perlte von ihrer Stirn. So derangiert und angsterfüllt hatte er sie noch nie gesehen. „Und Ihre Mutter Ewa?“
    „Sie hat unsere Familie verlassen“, gab Kranich trocken zurück, doch die Sehnen an seinem Hals spannten sich an.
    „Sie meinen, sie hat Sie verlassen.“ Darum ging es doch, um Verlust. Markus kam nicht damit klar, wenn ihm etwas weggenommen wurde, wenn sich etwas seiner Kontrolle entzog und er dem Schicksal machtlos ausgeliefert war. Denn wenn das passierte, fühlte er sich so klein und ohnmächtig wie in Kindertagen, als sein Vater ihn verdroschen hatte und ihm niemand geholfen hat.
    Für Daniel gab es keinen Zweifel daran, dass Markus das Gefühl der psychischen Qual als weitaus schlimmer empfunden hatte als die körperliche Züchtigung. Die Misshandlungen hatte er verinnerlicht, aus ihnen die falschen Schlüsse gezogen, und wandte dieselbe Methode inzwischen selbst an, um zu bestrafen, wenn jemand ihm Kummer bereitete.
    Hinzu kam, dass er das emotionale Leid von damals bis heute nicht verarbeitet hatte. Um diese Schwäche zu verbergen, wurde er ebenso handgreiflich – eine Spirale, der er nicht entkommen konnte.
    Alle Wege führten für ihn zu Gewalt. Daniel wurde klar, dass er

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