Leiden sollst du
hörte sich entfernt an. Heide musste den Hörer abgelegt haben und sich die Nase putzen. „Hab mich erkältet. Ist ja auch kein Wunder bei dem Sauwetter. Hat er sein Handy nicht dabei? Er geht nie ohne aus dem Haus.“
Maries Atem flatterte unruhig, aber Heide schien das nicht aufzufallen. „Darüber kann ich ihn nicht erreichen. Er hat es vermutlich stumm geschaltet, weil er im Unterricht sitzt.“ Diese Lüge war diesmal tatsächlich eine, denn sein Smartphone lag in seinem Zimmer.
Ihre Tante hustete. Dann knisterte es, als würde sie ein Taschentuch aus einer Verpackung ziehen. „Ist alles in Ordnung?“
Plötzlich schien Maries Zunge anzuschwellen, sodass sie nicht antworten konnte. Schwer lag sie in ihrem Mund und machte das Atmen und das Sprechen mühsam. Eine Einbildung, die erschreckend real erschien. „Ja, sicher.“
Eine weitere Unaufrichtigkeit, zum Schutz von Heide und Hajo. Was nutzte es, sie einzuweihen? Sie würden sich nur mit ihnen treffen und die Wahrheit in allen Einzelheiten hören und sich mit auf die Suche machen wollen. Dazu fehlte ihnen die Zeit. Außerdem wünschte sich Marie, dass Benjamin seinen Eltern alles selbst erzählte, weil sie sich sonst wie eine Verräterin vorgekommen wäre.
Etwas zu überstürzt verabschiedete sie sich, bevor Heide nachbohren konnte.
Daniel startete unerwartet den Wagen und gab Gas.
„Wohin fahren wir?“, fragte Marie und schnallte sich an.
„Irgendwohin, nur nicht länger auf einer Stelle bleiben. Das macht mich kirre!“
„Es könnte sein, dass Ben längst vor unserer Wohnung sitzt und auf uns wartet. Er hatte ja keinen Schlüssel im Krankenhaus dabei.“ Marie wählte die Nummer ihrer Nachbarn und drückte den Daumen ihrer freien Hand, in der Hoffnung, dass das Glück auf ihrer Seite war, doch keine fünf Minuten später hatte sie Gewissheit, dass ihr Cousin weder auf der Treppe, die zu ihrem Apartment im Obergeschoss führte, noch vor der Haustür saß. „Fehlanzeige.“
„Wo hielten sich Benjamin und seine Kumpel für gewöhnlich auf?“ Kurz schaute er sie stirnrunzelnd an, dann richtete er seinen Blick wieder auf die Fahrbahn. Der Regen warf Blasen auf dem Asphalt und die Abwasserkanäle liefen über. „Vielleicht hatten sie ein geheimes Versteck, trafen sich unter einer der Rheinbrücken oder wer weiß wo.“
„Keine Ahnung.“
Er schlug auf das Lenkrad. „Dann sind wir am Arsch.“
Rügend ob seiner Ausdrucksweise sah Marie ihn an, doch er murrte nur. „Aber ich kenne jemanden, der es weiß.“
Als Frau Buschhütter sich unter ihrer Handynummer, die sie ausgetauscht hatten, meldete, musste Marie feinfühliger vorgehen. Sie fiel nicht gleich mit der Tür ins Haus, sondern rang sich einen kurzen Smalltalk ab.
Ungeduldig trommelte Daniel mit seinen Fingerspitzen auf das Lenkrad.
Diesmal war das Glück auf ihrer Seite, denn Frau Buschhütter brachte gerade gewaschene Kleidung in die Psychiatrie. Zuerst weigerte sich Denis, das mögliche Versteck seines Freundes zu verpetzen, doch sie bedrängte ihn so lange, bis er mit der Sprache herausrückte.
Leider trafen Marie und Daniel Benjamin weder an der Halfpipe im Skatepark Lohserampe in Nippes, an der das Rat Pack früher herumlungert hatte, noch am Decksteiner Weiher oder auf dem Rangierbahnhof in Kalk.
Zwischendurch hatte Marie belegte Vollkornbrötchen besorgt, die für eine ganze Fußballmannschaft gereicht hätten. Nun bedienten sie und Daniel sich ein zweites Mal aus der Bäckereitüte und saßen schweigend nebeneinander. Die Stimmung war bedrückend.
„Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“ Obwohl Marie Hunger hatte, da es bereits nach Mittag war, bekam sie kaum einen Bissen herunter. Das Wasser prasselte nicht mehr vom Himmel herab, als wollte es alles Leben auslöschen, sondern es regnete Bindfäden – leise, monoton und melancholisch. Wie passend! , dachte sie.
Daniel biss regelrecht aggressiv von seinem Brötchen ab und kaute kräftig, während er die Leute, die an ihrem parkenden Auto vorübergingen, ihre Gesichter unter Kapuzen und Regenschirmen verborgen, beobachtete. „Was unternahm Ben denn alleine? Du kennst ihn besser als ich.“
„Musst du mit vollem Mund reden?“
„Ist das jetzt wichtig?“
War es nicht, aber es störte sie trotzdem. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter ihr brutal eingetrichtert hatte, dass man erst sprach, nachdem man das Essen heruntergeschluckt hatte. Wütend darüber, dass die Bastschen Erziehungsmethoden sie immer noch
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