Leiden sollst du
Vielleicht sollte er ihn nicht mehr so nennen. Er konnte ihm ja einen Namen geben, wie andere das bei ihrem Auto taten. Kinky Kylie oder Abby zum Beispiel. Dann hätte er stets eine Frau unter seinem Hintern. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Marie wäre sicher nicht erfreut. „Ich bin wegen Benjamins toter Freundin hier.“
„Julia?“ Sie richtete ihren Rücken so hastig kerzengerade auf, dass ihre Knochen knacksten.
Er warf einen raschen Blick zur Tür, dahinter waren Stimmen zu hören, aber niemand kam herein. „Auf ihrer Beerdigung waren tatsächlich Ermittler in Zivil.“
„Das bedeutet aber doch ...“
Er legte seinen Zeigefinger an seine Lippen. „Scht, leiser. Ja, das Mädchen fiel einem Verbrechen zum Opfer.“
Als er noch überlegte, wie er vorsichtig formulieren konnte, dass sie gefoltert und geschändet wurde, sagte Marie: „Man hat ihr Gewalt angetan.“
„Ihre Leiche wies Hinweise auf ein Tötungsdelikt auf.“ Genauer wollte er nicht darauf eingehen, damit sie keine Albträume bekam. Wenn es nach ihm ginge, würde er alles Übel von ihr fernhalten. Aber so funktionierte das Leben nun mal nicht.
„Weiß Benjamin das?“ Sie rieb über ihre Wangen, als beabsichtigte sie, die Blutzirkulation anzuregen, um die Blässe und den Schrecken zu vertreiben. „Er wird doch nicht etwa verdächtigt?“
„Noch wird die Information über den Mord zurückgehalten. Tomasz spricht nicht über Ben, daran erkenne ich, dass sie ihn keineswegs aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen haben. Aber er hat nichts mit Julias Ermordung zu tun, mach dir keine Sorgen. Benjamin würde so etwas nie tun.“ Bis vor Kurzem hatte Daniel ihm allerdings auch nicht zugetraut, im Museum auf Ausstellungsstücken herumzuturnen wie ein tollwütiger Affe.
Marie führte ihren Becher zum Mund und merkte erst, dass kein Kaffee mehr darin war, als sie zu trinken versuchte. Verlegen lächelnd stellte sie den Becher ab. Hatte er etwas gesagt, dass sie nervös machte?
Plötzlich ertönte ein dumpfes Geräusch, als würde jemand auf die Tasten einer Schreibmaschine hacken und dann die Schreibwalze zurückschieben. Daniel kannte diesen Klingelton. Marie mochte ihn, weil er nostalgisch war. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und las die SMS, die sie soeben erhalten hatte.
„Oh mein Gott!“ Entsetzt schlug sie die Hand auf ihren Mund.
Dann sah sie Daniel mit einem Ausdruck an, der das Blut in seinen Adern gefrieren ließ. „Wir brauchen deine Hilfe. Es geht um Leben und Tod.“
Während sie aufgeregt mehrmals hintereinander kräftig schluckte, hielt sie ihm das Display hin. Eine Telefonnummer wurde nicht angezeigt, denn Marie hatte den Absender eingespeichert. Stattdessen stand über der Nachricht der Name ihrer Tante. Doch von Heide Mannteufel stammte die SMS nicht.
Stumm las Daniel:
Kein Cache. Ben
11
„Du hast was?“, schrie Benjamin aufgebracht ins Telefon.
Er musste nicht befürchten, dass seine Eltern in sein Zimmer gestürzt kamen, denn sein Vater befand sich noch auf einem Geschäftsessen und seine Mutter kam mit den Krücken nicht zurecht. Ihre hilflosen Gehversuche waren schrecklich mit anzusehen. Die meiste Zeit saß sie im Ohrensessel im Wohnzimmer, als wäre sie Dekoraktion wie der Steinbuddha auf dem Beistelltisch. Aber das hatte auch etwas Gutes. Somit verließ sie die Wohnung nicht und war vor weiteren Angriffen durch GeoGod sicher.
„Wir brauchen Daniels Unterstützung, er ist ein Profi“, sagte Marie am anderen Ende der Leitung. „Das Ganze wächst uns über den Kopf.“
Wütend schnaubte er. Jetzt war es eh zu spät. Sie hatte Daniel bereits eingeweiht. Nicht nur der Patron wollte einen Polizisten aus ihrem Spiel heraushalten, auch Benjamin befürchtete, in Kürze durch ein Labyrinth mit Fallen zu laufen, die Daniel zwar für GeoGod aufstellen würde, denen aber auch Ben selbst zum Opfer fallen konnte.
Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Als säße Daniel bereits in der Nähe und hätte ein Teleobjektiv auf ihn gerichtet. Daniel sollte ihn beschützen, aber er brachte Bens Eltern durch seine bloße Anwesenheit nur noch mehr in Gefahr, als sie ohnehin schon waren, und konnte bei der Observation auch Bens dunkle Geheimnisse herausfinden.
Alles war außer Kontrolle. So eine Scheiße, so eine verfluchte Scheiße! Dabei war er gerade erst den Museumswärtern haarscharf entkommen. Eine Mitarbeiterin der Reinigungsfirma hatte den Ausstellungsraum durch die Sicherheitstür zu den
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