Leiden sollst du
schaute tapfer erneut hin.
Das war krank! Wie konnte ein menschliches Wesen einem anderen so etwas Schreckliches antun? Sie hoffte, dass er es wenigstens nicht mehr miterlebt hatte, aber die blutgetränkte Kleidung bewies das Gegenteil.
Angewidert betrachtete sie ihre Hände, ihre Kehrseite und ihr Hosenbein, aber sie waren sauber. Erst jetzt erkannte sie, dass das Blut des Mannes längst getrocknet war.
Sein Gesicht war aschfahl, seine Augen überzogen von einem milchig-grauen Film. Eine Fratze! , dachte sie und erschauderte. Die Totenstarre schien sich schon gelöst zu haben, aber Marie wagte nicht, ihn zu berühren, um festzustellen, ob sie mit ihrer Vermutung richtiglag.
Man hatte ihm den Mund zugenäht und Haken in seine Augenlider gebohrt, diese hochgezogen und die andere Seite an der Stirn befestigt, sodass es den Eindruck machte, als starre er in die Dunkelheit. Weitere Haken waren durch seine Wangen gestochen und seine Haut damit Richtung Hinterkopf zurückgezogen worden. Ein bizarres Facelifting.
Außerdem fehlten seine Füße.
Das Fleisch an den Stümpfen sah zerfranst aus, als wären sie abgesägt worden und der Täter hatte mehrmals ansetzen müssen. Marie leuchtete durch die Dunkelheit, sah die fehlenden Körperteile jedoch nirgends.
Grausam! Marie würgte bittere Galle hoch. War er es wirklich? Sie war sich nicht sicher, da er durch die verzerrte Mimik anders aussah, entstellt, als wäre die Ermordung nicht genug gewesen, sondern als beabsichtigte der Mörder nach seiner Ermordung, sich noch über ihn lustig zu machen, ihn zu entwürdigen, der Lächerlichkeit preiszugeben und seine Leiche zu schänden.
Marie war so durch den Wind, dass sie mehrere Anläufe benötigte, um Julias letztes Foto aufzurufen. Mit den Tränen kämpfend hielt sie es neben den Toten.
Ja, das war Schnapper. Obdachloser, Exknacki und verurteilter Kinderschänder. Nun war er selbst Opfer eines Verbrechens geworden. Hatte seine Ermordung etwas mit seiner krankhaften Lust zu tun? Hatte ein Elternteil eines der Kinder, an denen er sich vergangen hatte, späte Rache geübt? War er rückfällig geworden und hatten die Anwohner Selbstjustiz verübt? Oder lag das Motiv für die Tötung in der schicksalhaften Party vor dreizehn Monaten?
Immerhin war er schon der zweite Mann, der mit Julia dort gefeiert hatte und bestialisch umgebracht worden war. Was hatte das zu bedeuten? Was verband Mike Schardt, Julia Kranich und Schnapper? Hatte Benjamin, der ebenso wie der Stadtstreicher auf Julias letztem Foto zu sehen war, die beiden Männern gekannt?
Ben! Er durfte nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden, sonst stand er unweigerlich auf einer Liste: entweder der der Verdächtigen oder der der Todeskandidaten.
In Panik schaltete sie das Smartphone komplett aus, um ihn zu schützen. Erst als sie umgeben von Finsternis und Stille dastand, realisierte sie, dass sie das Telefon nie wieder würde aktivieren können, da sie weder die PIN noch die PUK-Nummer kannte.
Marie hatte das Gefühl, mit dieser Kurzschlussreaktion Benjamin keinen Gefallen getan zu haben.
18
Alle im Polizeipräsidium nannten Vasili Papadopoulos nur „Papa“ oder den „Goth“, aber Daniel sagte respektvoll Vasili zu ihm, denn er hatte erkannt, was in ihm steckte.
Der untersetzte Achtundzwanzigjährige trug immer Schwarz, nicht etwa, um seine Leibesfülle zu verdecken, sondern als Ausdruck seiner Lebenseinstellung.
Den Ohrring, ein schwarzes Kreuz, gestand sein Vorgesetzter von der Abteilung Computer- und Internetkriminalität und Telekommunikationsüberwachung ihm noch zu. Aber dieses verklemmte Arschloch zwang ihn, selbst bei dreißig Grad Hemden und T-Shirts mit langen Ärmeln zu tragen. Andere Vorgesetzte drückten bei der Umsetzung der Dienstanweisung des Innenministeriums, die besagte, dass Tätowierungen im Dienst nicht sichtbar sein dürfen, schon mal ein Auge zu. Vasili jedoch musste selbst im Präsidium, wenn ihn ausschließlich Kollegen zu Gesicht bekamen, die Tattoos, die seinen linken Arm von der Schulter bis hinab zum Handgelenk zierten, verdecken. Ein Gräberhügel, bleiche Frauen mit Todessehnsucht in den Augen und ein weinender Engel mit ausgerissenen Flügeln passten seiner Meinung nach nicht zu der Aufgabe, Mörder, Pädophile und Betrüger im Internet aufzuspüren.
Wie Vasili einmal zu Daniel gemeint hatte, fühlte sich der junge Deutsch-Grieche der Schwarzen Szene zugehörig. Er interessierte sich aber auch fürs Mittelalter,
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