Leidenschaft, Die Dich Verfuehrt
»Wenn ich das Co rn ie erzähle, ist ihr der ganze Tag verdorben.«
Shay verzog das Gesicht und verdrehte die Augen. Er war zwar in den letzten achtzehn Monaten nicht immer ganz auf der Höhe gewesen, aber er hatte auch nicht permanent in der Gosse gelegen. Trotzdem taten die Leute - und sogar seine eigene Schwester! - manchmal geradezu so, als ob er Tag und Nacht trinkend und spielend im >Yellow Garter Saloon< verbracht hätte. Er spürte ein Prickeln im Nacken und blickte über die Schulter zum Saloon. »Sag mal, Dorrie«, fragte er gedehnt, »hast du etwas von einem Mädchen namens Liza Sue gehört? Sie hat drüben im Saloon gearbeitet und ist weggelaufen, nachdem ein Kerl sie verprügelt hat.«
»Wenn ich etwas wüßte, würde ich es dir nicht erzählen«, erwiderte Dorrie. »Keine Frau sollte in so einem schmuddeligen Etablissement ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf und runzelte dann die Stirn. »Wieso bist du eigentlich hier?« hakte sie nach. »Ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, daß du vorhin auf einem schwarzen Wallach mit drei weißen Socken aus der Stadt geritten bist.«
Shay grinste und legte seinen Handrücken an Dorries Stirn, als wollte er prüfen, ob sie Fieber hatte. »Ich glaube, du wirst alt, wenn du schon solche Sachen siehst.«
»Scher dich zum Teufel«, brummte sie freundlich. »Ich werde dich bestimmt überleben und Cornie sowieso.«
»Theodora!« Die Frauenstimme, die aus dem Ladeninne rn ertönte, klang ein bisschen schrill. »Wirst du heute vielleicht noch mit dem Fensterputzen fertig?«
Dorrie hob seufzend die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Gott, wie ich diese Frau hasse!« sagte sie laut und voller Inbrunst.
»Warum bleibst du dann hier?« fragte Shay irritiert. Shamus und Rebecca McQuillan waren zwar nie wirklich reich gewesen, aber sie hatten ihren Kindern den florierenden Krämerladen - den einzigen in der Stadt - und ein schönes zweistöckiges Wohnhaus mit einem Garten drumherum hinterlassen. Es war also nicht so, daß Dorrie keine andere Wahl gehabt hätte, als zu bleiben.
»Weil ich mich von der alten Meckerziege nicht vertreiben lasse. Diese Genugtuung gönne ich meiner Schwester einfach nicht.«
»Theodora!«
»Schrei nicht so herum, Co rn ie«, rief Dorrie erbost. »Ich unterhalte mich nämlich gerade mit meinem kleinen Bruder.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich kann warten, Shamus. Wenn sie mit den Zehenspitzen nach oben auf dem Friedhof liegt, werden wir, du und ich, den Laden verkaufen und uns das Geld, das wir dafür bekommen, teilen.«
Shay gab Dorrie einen zärtlichen Kuß auf die Stirn. Er hatte sich nie um den Laden gekümmert, obwohl er - rechtlich gesehen - daran beteiligt war. Er war kein Kaufmann, und deshalb hatte er das Geschäft seinen Schweste rn überlassen und auch auf seinen Anteil am Gewinn verzichtet. »Warte nicht zu lange«, murmelte er. »Cornelia wird aus purer Bosheit steinalt werden.«
In diesem Moment trat Cornelia in die Tür. Rein äußerlich betrachtet, war sie eine beeindruckende Frau von fast fünfzig Jahren. Sie hatte große grüne Augen und kupferfarbene Haare, die sorgfältig zurechtgemacht waren. Ihr Herz war jedoch so kalt und ihre Seele so schwarz, daß wohl der Teufel persönlich erschaudert wäre. »Was willst du?« fragte sie herrisch und starrte Shay an. »Geld, damit du dir noch mehr Whiskey kaufen kannst?« Sie hatte ihn nie als Bruder akzeptiert, sondern in ihm immer nur einen Eindringling gesehen, aber Shay hatte sich längst an ihre Feindseligkeit gewöhnt.
Er tippte mit dem Finger gegen die Hutkrempe und lächelte sie mit seinem berühmten schrägen Grinsen an, denn er wusste , daß sie das auf den Tod nicht ausstehen konnte. »Ich will gar nichts«, meinte er im Plauderton. »Ich habe alles, was ich brauche, und bin vollkommen glücklich und zufrieden.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber schon bei dem Gedanken, daß es ihm gutging, würde Cornelia sich ärgern - und das war eine kleine Lüge wert.
»Du kannst jederzeit wieder zu uns ins Haus ziehen, Shamus«, erklärte Dorrie und betonte dabei jedes einzelne Wort, während Cornelia bei diesem Vorschlag zusammenzuckte. »Mama und Papa hätten es so gewollt.«
Es gab Zeiten, in denen Shay das geräumige alte Haus vermißte, die Bücherregale mit den kostbaren Büchern, die großen hellen Räume mit dem kühlen, glänzenden Holzfußboden. Er hatte seine ganze Kindheit und Jugend in dem Haus
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