Leidenschaft in Rot
hier so etwas wie eine harte Selektion vor. So etwas mitzumachen setzte eine Unfähigkeit voraus, an eine Menge andere Dinge zu glauben. An menschliche Würde, zum Beispiel.
Aber etwas beunruhigte mich trotzdem, etwas, das ich nicht genau zu benennen wußte. Daher holte ich sie wieder heraus und ging sie noch einmal durch. Da war es. Die schreckliche Einsamkeit in ihren Gesichtern. Jeder einzelne von ihnen, bei all diesem lethargischen Durcheinander von Intimitäten, diesem Lexikon klinischer Fallbeschreibungen, wirkte unsagbar und verzweifelt einsam.
Und dabei waren es schöne Menschen. Lysa Dean spielte auf jeder Aufnahme die Hauptrolle, und ihr Körper war so makellos, wie er es versprach.
Mir war, als hätte ich an ein großes Paradox gerührt. Der groteske Höhepunkt an Gemeinschaft ist zugleich die äußerste Einsamkeit des menschlichen Geistes. Und wenn man sich erst einmal so weit auf diesen dürren Ast hinausgewagt hatte, gab es keine Möglichkeit mehr, wieder heil zurückzukommen.
Mit einem Achselzucken schaute ich mir die Fotos noch einmal danach an, ob sie mir etwas über den Zeitpunkt der Aufnahmen verrieten. Dann steckte ich sie wieder weg.
An der unterschiedlichen Länge der Schatten auf den Bildern, an den veränderten Positionen auf der sonnigen Terrasse konnte ich erkennen, daß sie über Stunden, möglicherweise Tage hinweg aufgenommen worden waren.
Bald kehrte Lysa mit einem halb herausfordernden, halb kalkuliert ernsten Blick zurück. »Nun?« sagte sie.
»Es sieht nicht aus, als sei es ein Heidenspaß gewesen.«
Die Antwort erschreckte sie. Sie starrte mich an. »Ach, Sie haben ja so recht ! Wissen Sie, es kommt mir vor, als läge das ganze tausend Jahre zurück. Ich nehme an, ich wollte es ganz aus meinem Gedächtnis verdrängen. Herrje, irgend etwas daran ist auf eine krankhafte Art erregend. Aber das einzige, woran ich mich heute erinnere, ist, daß ich die ganze Zeit über gereizt und verärgert und ungeduldig war. Und müde. Einfach nur schrecklich müde, ohne je die Möglichkeit zu bekommen, lange genug auszuschlafen. Und daß ich das Gefühl hatte, alle anderen seien irgendwie nur eine ... eine einzige Masse. Nicht wie auf den Bildern.«
»Sind die hier genau wie die anderen Fotos, die Sie bekommen haben?«
»Es sind exakt die gleichen Aufnahmen, aber sie sind nicht genau wie die anderen. Diese hier sind irgendwie verschwommener und grauer. Nicht so scharf. Aber natürlich habe ich die anderen nicht zum Vergleich aufbewahrt.«
»Wir müssen sie zusammen durchsehen, damit Sie mir die Namen zu den Gesichtern nennen können, Lee. Und mir sagen, was Sie über jeden wissen.«
»Das läßt sich wohl nicht vermeiden.«
»Wie ein Gang zum Zahnarzt. Ich denke, es gibt von jeder Person in der Gruppe wenigstens ein ordentliches Bild.«
Sie zog ein Gesicht. »Diese Bilder sind nicht gerade gut für mein Selbstbewußtsein, Travis. Es ist etwas ganz Besonderes für ein Mädchen, wenn es wie ein Fünfzig-Peso-Flittchen in irgendeinem Hinterhofzirkus in Juarez aussieht.«
Ich schaltete eine Lampe ein, und wir setzten uns an den Tisch im tiefer gelegenen Teil des Zimmers. Ich fand einen Stift und Papier. Ich deutete auf die Bilder und stellte dazu Fragen. Sie antwortete mit leiser, brüchiger Stimme, das Gesicht halb abgewandt. Ich machte mir folgende Notizen.
1. Carl Abelle - etwa 27 - einsachtzig - stämmig - blond - hat Sun Valley verlassen - in der Mohawk Lodge bei Speculator, New York, versuchen.
2. Nancy Abbott - etwa 22 - groß, schlank, starke Trinkerin, gute Singstimme, vermutlich geschieden, möglicherweise Tochter eines Architekten. Nahm Skiunterricht bei Carl Abelle in Sun Valley. Vermutlich Hausgast bei ...
3. Vance und Patty M’Gruder, wahrscheinlich aus Carmel, Ehepaar, Mitte Zwanzig, offensichtlich wohlhabend, Vance ein Segelfan, Ozeanregatten usw., besitzen Haus auf Hawaii (?), Mann sehr braungebrannt, untersetzt, breitschultrig, muskulös, wird vorzeitig kahl, Frau üppig und hübsch, sehr lange blonde Haare, streitsüchtig, starker britischer Akzent.
4. Cass, könnte Vor-, Nach- oder Spitzname sein. Schien die M’Gruders schon von früher zu kennen. Etwa dreißig. Dunkel, behaart, gutaussehend, sehr kräftig. Lustig (?). Vielleicht Maler. Freund von ...
5. Sonny, etwas jünger als Cass, schlank, kalter Blick, Neigung zu Gewalttätigkeit, einsilbig, Beruf unbekannt, gekommen mit ...
6. Whippy. Etwa neunzehn damals. Kupferrote Locken, Sommersprossen, möglicherweise
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