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Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall

Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall

Titel: Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Franzinger
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Holztisch Platz.
    »Ja, das ist es«, rief er plötzlich so laut, dass Kurt umgehend ein Protestgebell anstimmte. »Das ist die neueste Herausforderung für einen modernen Lyriker.«
    »Was?«, kam es aus mehreren Mündern gleichzeitig.
    »Spontanlyrik ist zurzeit total in. Oder wie man heutzutage so schön in modernem Pfälzisch sagt: Poetry-Slam.«
    »Was’n das schon wieder für’n Ami-Quatsch?«, zischte Jacob.
    »Das ist kein Quatsch, Vater«, konterte sein ältester Sohn. »Das ist so etwas wie Blitzschach, nur mit Buchstaben eben.«
    Heiner ging zum Küchenschrank, nahm den Einkaufsblock und einen Stift zur Hand und kritzelte etwas darauf. »Aufgepasst, Leute, ich erklär euch jetzt mal schnell, wie ein Poetry-Slam funktioniert.«
    »Muss das denn wirklich sein?«, fragte sein Bruder mit unverkennbar gequälter Mimik.
    »Ja, das muss jetzt sein«, gab Heiner trotzig zurück. »Für ein bisschen Bildung ist es nie zu spät.« Seine Augen hüpften zwischen seinem Vater und seinem Bruder hin und her. »Gerade euch beiden schadet so was gar nichts.«
    Tannenberg rollte die Augen.
    Sein Bruder ließ sich jedoch von diesem zur Schau getragenen Desinteresse nicht beeindrucken, sondern fuhr mit seiner pseudokulturellen Beglückung fort. »Der Teilnehmer an solch einem Kreativ-Wettbewerb muss in einem engen Zeitfenster eine bestimmte lyrische Aufgabe erfüllen. Meine Aufgabe besteht nun darin, über den Begriff ›Kettenmord‹ aus Vaters Zeitung ein Gedicht zu schreiben.« Er schaute auf die Pendeluhr. »Und dazu habe ich von jetzt an genau fünf Minuten Zeit.«
    »Oh, nein, nicht schon wieder ein kriminalpoetischer Amoklauf«, stöhnte Wolfram Tannenberg auf.
    Heiner nahm diesen Einwurf allerdings nicht mehr bewusst wahr, denn er war bereits mit allen Sinnen auf seinen künstlerischen Schaffensprozess konzentriert. Mit gesenktem Haupt wandelte er in der Küche auf und ab.
    Kopfschüttelnd schöpfte Margot die Suppe in die Teller und wünschte allseits einen guten Appetit.
    »Apropos ›Kettenmord‹«, sagte der Senior eher beiläufig. »Ich hätte da eine sehr wertvolle Information für dich.«
    »Wertvolle Information«, wiederholte sein jüngster Sohn prustend. Er dippte einen Fetzen der Dampfnudel in die Vanillesoße und stopfte ihn in seinen Mund. »Wie sollte die denn aussehen?«, fragte er kauend.
    Jacobs Gesicht leuchtete auf. »Wenn du dich mit 20 Euro beteiligst, gebe ich dir diese wichtige Information gerne preis.«
    »Woran soll ich mich beteiligen?«
    »An meinem Poker-Einsatz.«
    Tannenberg verschluckte sich fast und musste husten. »Spielst du alter Zocker jetzt etwa auch noch Poker?«
    »Ja, das geht doch heutzutage ganz einfach im Internet.« Der Senior richtete den Oberkörper auf, zog den Kopf zum Kinn und verkündete mit stolzgeschwellter Brust: »Ich habe auch schon ein paar Dollar gewonnen.«
    »Dollar?«
    »Natürlich Dollar, oder meinst du vielleicht, wir spielen in Las Vegas um Euros.« Amüsiert presste er Luft durch die Nase. »Du bist vielleicht naiv, mein Junge.«
    Tannenberg verzichtete auf einen Kommentar und überreichte seinem Vater schmunzelnd den gewünschten Geldschein. »Ich bin dann aber auch am Gewinn beteiligt.«
    »Klar, mein Junge«, freute sich das grauhaarige Familienoberhaupt.
    »So, ich hab’s«, schmetterte Heiner in die Küche. »Sogar 15 Sekunden früher als erlaubt.« Er nahm eine Pose wie ein Hydepark-Redner ein, räusperte sich ausgiebig und tönte lauthals: »Hier ist es, das Gewinnergedicht des diesjährigen Poetry-Slam-Wettbewerbs in der Beethovenstraße:
     
    Kettenmord –
    Welch gruseliges Wort!
    Alle denken an den toten Menschen,
    Entzünden für ihn Trauerflämmchen.
    Doch wer hegt Mitleid mit der armen Kette?
    Niemand, worauf ich alles wette.
     
    Keiner fühlt mit einem segensreichen Teil,
    Einst geschaffen für des Treters Bein.
    Gescholten nun als Mordwerkzeug,
    Verschmutzt mit Blut und Hautpartikeln,
    Erstickt in einem Asservatenbeutel.
    Aus dem Verkehr gezogen ohne Not –
    Und wegen dir für immer tot!«
     
    Die letzten beiden Zeilen hatte er betont akzentuiert zum Besten gegeben, wobei sein rechter Zeigefinger wie der Taktstock eines Dirigenten auf seinen Bruder eingestochen hatte.
    Der riss die Arme nach oben: »Bitte, nicht den Todesstoß!«, flehte Tannenberg.
    Heiner grinste und erklärte mit anschwellender Stimme: »Keine Angst, geliebtes Bruderherz, ich werde dich jetzt nicht töten. Ich brauche dich doch noch als Anregung für meine

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